Zürcher Bevölkerungsverzeichnisse: eine ‘Pisa-Studie’ in der Frühen Neuzeit? Lesen zwischen Schulbildung, Frömmigkeit, Privatlektüre und sozialer Wirklichkeit in Stadt und Landschaft zwischen 1637 und 1750

AutorIn Name
Michael
Egger
Academic writing genre
Master thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Heinrich Richard
Schmidt
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2014/2015
Abstract
Im Staatsarchiv Zürich liegen mit den Bevölkerungsverzeichnissen Quellen vor, welche für die meisten Grundprobleme der historischen Alphabetisierungsforschung Abhilfe schaffen können: zahlreiche der insgesamt 1735 Zürcher 'Catalogi' enthalten Lese- und teilweise Schreibfähigkeitsangaben, die der Pfarrer für seine Gemeindemitglieder notiert hat. Solche direkten Quellen, die europaweit selten und meist nur für Kleinregionen erhalten sind, stellen einen immensen Fortschritt gegenüber der umfangreich betriebenen Signaturforschung dar, die mangels Alternativen von der Signierfähigkeit auf die Lesefähigkeit schliessen musste. Durch ihre Datierung von 1637–1767 decken die Rödel ausserdem einen Zeitraum ab, welcher als besonders schwierig zu erschliessen gilt. Marie-Louise von Wartburg-Ambühl hat den Quellenbestand bereits 1981 nach Angaben zu Bücherbesitz und Alphabetisierung hin durchgesehen – und alleine 97 Verzeichnisse mit Alphabetisierungsangaben ausgewertet. Diese Studie hat das von Rudolf Schenda geprägte Forschungsparadigma eines illiteralen Volkes vor 1830 – seine Schätzung von 15% für 1770 hat Einzug in historische Handbücher gefunden – als unhaltbar erscheinen lassen: bereits in den 8 Erhebungen vor 1650 liegen die Werte der Zürcher Gemeinden zwischen 17% und 41% für die Gesamtbevölkerung, zwischen 1725 und 1750 erreichen 22 von 27 Gemeinden Werte über 50%, 16 bereits über 70%. Bei aller Würdigung dieser von der Schweizer Bildungsforschung mehrheitlich ignorierten Pionierleistung Wartburgs konnte die Masterarbeit aufzeigen, weshalb eine erneute und vertiefte Auseinandersetzung mit dem Quellenbestand dringend notwendig ist: zu den Defiziten ihrer Studie gehören die fehlende Vollständigkeit, das deduktive Vorgehen, der Einbezug unzuverlässiger Quellen sowie das unausgeschöpfte Potential – die Pfarrer hatten schliesslich nicht nur Namen und Alter, sondern oftmals auch den Beruf, den Schulbesuch, die religiösen Fähigkeiten und den Bücherbesitz der Gemeindemitglieder notiert, Wartburg beschränkt sich trotzdem auf die Gesamtbevölkerung und die Variable des Geschlechts. Die Masterarbeit konnte in einem ersten Schritt aufzeigen, dass das Anlegen der Catalogi ein von der Obrigkeit lange gefordertes, bei den Pfarrern zumindest ursprünglich umstrittenes Instrument der Bildungs- und Glaubensevaluation im kirchlichen Sinne darstellte: nach anfänglich regelmässig und zahlreich eintreffenden Rödeln unterlag die Häufigkeit der Eingabe über die Erhebungsdauer hinweg grossen Schwankungen, mehrmals wurde aber beinahe die gesamte Zürcher Landschaft befragt. Bei 83% der 1735 Rödel wurden die religiösen Fähigkeiten – jeweils ab- gestuft nach der in Lehrbüchern, Schulordnungen und Kirchenordnungen vorgeschriebenen Reihenfolge von Gebeten und Katechismen – verzeichnet, bei 12% sind Angaben zur Lesefähigkeit enthalten, bei 9% der über die Bibel hinausgehende, religiöse Buchbesitz. Interessant ist die offensichtliche Verschiebung der pfarrlichen Interessen und Bildungsvorstellungen über den Zeitverlauf hinweg: wurden bei 93% der Rödel von 1633-1660 katechetische Fähigkeiten und Gebete erhoben, sind diese Angaben ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Minderheit. Gleichzeitig rückte gerade die Lesefähigkeit vermehrt ins Blickfeld der Pfarrer: der Anteil der Verzeichnisse mit entsprechenden Angaben steigt von den ersten beiden Zeitphasen des 17. Jahrhunderts mit 5 und 6 Prozent auf 23% um die Jahrhundertwende, erreicht bei den 142 Rödeln 1721-1750 39% und liegt dann in der Mehrheit. Für die spezifische Auswertung der Lesefähigkeit wurden 9 Bevölkerungsverzeichnisse ausgewählt. Um über die vorhandenen Angaben Einflussfaktoren für die Alphabetisierung bestimmen zu können, wurden die relevanten Kontexte und Dimensionen der messbaren Impulse der Schulbildung (Alter, konkrete Angaben), sozioökonomische Faktoren (Beruf/Amt) sowie Glaubensströmungen und Lektürepraxis (Buch- besitz) erörtert und spezifische Kohorten gebildet. Durch die Hinzunahme älterer Forschung und zahlreicher Kommentare in den Rödeln selbst sowie anderer Quellen konnte deutlich aufgezeigt werden, dass in den Verzeichnissen mindestens das Lesen von Drucktexten abgebildet wird – und die Zuweisung der Pfarrer auf zuverlässigen Grundlagen basierte. Die zahlreichen und vielseitigen Befunde müssen sich hier auf ein Minimum beschränken: im ausgewerteten Gebiet der Stadt Zürich sind 1637 von über 2000 Personen bereits mindestens 53% alphabetisiert – hier kommt der Verweis des Lesens bis auf 7 Personen immer in Kombination mit der Schreibfähigkeit vor. Der gerade bei bildungsnahen Personengruppen oft fehlende Verweis lässt darauf schliessen, dass das städtische Zürich im 17. Jahrhundert grossmehrheitlich alphabetisiert gewesen sein muss. Deutlich zeigte sich die Bildungsnähe der Handwerker: die Männer erreichen in jeder der nach Zünften differenzierten Kategorien über 75%, und auch deren Frauen erreichen immer über 60%, meist über 70%. Für die Landschaft zeigte sich u.a., dass nicht nur die lokalen Ehrbarkeiten oder die Betreiber eines ehaften Gewerbes fast vollständig alphabetisiert gewesen sind, sondern auch die Bauern in den gebildeten Kategorien über 70% und 80% erreichen, während die prekären Erwerbstätigen vergleichsweise schlecht abschneiden. Weiter zeigten sich strukturelle Faktoren: Die fast 2000 Personen Elggs erreichen 1722 mit 79% für die Gesamtbevölkerung ab sechs Jahren einen Höchstwert. Interessant ist, dass die Kirch- gemeinde des mit Marktrecht ausgestatteten Fleckens es sich leistete, zwei Schulen im Hauptort und für die etwas mehr als 1000 Personen in den umliegenden Dörfern und Weilern weitere fünf Schulen zu unterhalten. Diese wurden zum Erhebungszeitpunkt von 80% der Knaben und 60% der Mädchen im schulrelevanten Alter besucht. Beide Geschlechter zwischen 10 und 30 waren dementsprechend fast vollständig alphabetisiert. Die 804 Personen Hirzels 1689 wiederum – die Gemeinde hatte zu jener Zeit mit über 60% den höchsten Anteil an protoindustriellen Arbeitskräften in ganz Zürich – offenbaren die negative Auswirkung der primär von Frauen und Jungen ausgeführten Heimarbeit. Von den 11 Näherinnen konnten nur zwei lesen, von den 184 Spinnerinnen nur 28%, und von den Weberinnen 36%. Von den 10- bis 20-Jährigen lasen 54% der Knaben und nur 25% der Mädchen, von den in Heimarbeit beschäftigten 24 Knaben besuchten nur 9 die Schule, von den 66 Mädchen sogar nur deren 14. Das Beispiel Äugsts hingegen – eine kleine, bäuerliche Gemeinde, in welcher die Pfarrersfrau im Lesen, der Pfarrer im Schreiben unterrichtete – verdeutlicht die Möglichkeiten einzelner Akteure, des 'Lokalismus': 1708 lasen 55% der 364 Personen ab 6 Jahren, die potentiellen Schulbesuchenden erreichten 76%, die potentiellen Schulabgänger 71%, wobei sich die Werte beider Geschlechter hier stark anglichen. Bezüglich des Buchbesitzes ist vorab die quantitative Verbreitung bemerkenswert: die Haushalte ohne Bücher waren überall klar in der Minderheit. Die Personen mit vermehrtem Zugang zu Büchern konnten deutlich besser lesen als solche ohne oder mit nur wenigen Büchern – gleichzeitig waren Zugang zu Lektüre und Alphabetisierung aber nicht aneinander gebunden. Interessant erscheint in diesem Kontext eine Analyse von spezifischen, schlecht lesenden Personengruppen. So konnten bspw. von den über 51- jährigen Frauen Elggs diejenigen mit Zugang zur Bibel und anderen Büchern zu 77% lesen, von denjenigen in Haushalten ohne Angaben waren es weniger als 25%. Hervorzuheben ist weiter der Zusammenhang von erbaulicher und pietistischer Literatur mit der Lesefähigkeit. In Herrliberg 1701, wo die Protoindustrie ebenfalls recht stark verbreitet war, zeigt sich dies an der schwach alphabetisierten Gruppe der Frauen ab 31: von den Frauen mit Zugang zu 5 oder mehr Büchern und mindestens einem Erbauungswerk lasen 79%, wogegen nur eine von 17 Frauen in Haushalten ohne Bücherangaben lesen konnte. Eine Auswahl der Ergebnisse wird publiziert in: Schmidt, Heinrich R./Egger, Michael: Alphabetisierung, Schulbesuch und Lektüre im Kontext dörflicher ökonomischer Strukturen des Kantons Zürich vor 1800. In: Dörfliche Erwerbs- und Nutzungsorientierungen: Bausteine zu einem überregionalen Vergleich. Kassel University Press 2015.

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