Academic writing genre
PhD thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Gerlach
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2016/2017
Abstract
Die Studie versteht sich als kritische Erfahrungsgeschichte strategischer Zwangsumsiedlung während der Dekolonisierungskriege in Kenia und Algerien.
1,1 Millionen Menschen siedelte die Britische Kolonialregierung in Kenia innerhalb eines knappen Jahres in umzäunte und überwachte Lager um; 2,3 Millionen wurden von der französischen Armee in Algerien während des Unabhängigkeitskrieges umgesiedelt. Die beiden Kolonialregime erhofften sich von der Umsiedlung grosser Teile der jeweiligen Landbevölkerungen, diese von jeglichem Kontakt mit den antikolonialen Guerillabewegungen abzuschneiden und sie gleichzeitig in den neu angelegten Dörfern massiven sozioökonomischen Modernisierungsprogrammen unterziehen zu können.
Die Erfahrung von Vertreibung und Neuansiedlung, steter Überwachung, prekären materiellen und hygienischen Bedingungen und der konstanten Konfrontation mit reformerischen Interventionen der Kolonialbehörden bildet somit eines der prägendsten Elemente der Dekolonisierungskriege in den betroffenen ländlichen Gesellschaften in Kenia und Algerien. In Abgrenzung zu rein politik- und militärgeschichtlichen Arbeiten zum Ende der europäischen Kolonialherrschaft versteht sich die vorliegende Dissertation daher vor allem als Beitrag zu einer Sozialgeschichte der Dekolonisierungskriege.
Dieser Anspruch wird methodisch durch den Vergleich zweier grosser Fallstudien sowie durch die Auswertung von Oral History-Interviews und regionalen und lokalen Quellen eingelöst. 62 Interviews mit ehemaligen Umgesiedelten in Kenia und Algerien bilden dabei die Grundlage, um die Erfahrungen und Narrationen der Betroffenen von strategischer Zwangsumsiedlung zu untersuchen und den Quellen staatlicher und europäischer Akteure gegenüberzustellen. Der Vergleich ermöglicht es dabei, situativ und lokal bedingte Auswirkungen der Zwangsumsiedlung von generalisierbaren Elementen zu unterscheiden, die einer Kombination von Bevölkerungskontrolle und gesteuerter sozioökonomischer Transformation inhärent sind. Die Quellenbasis aus Betroffenen-Interviews und Dokumenten nicht-staatlicher Organisationen erlaubt es, die vornehmlich militär- und verwaltungstechnische Perspektive der Regierungsdokumente zu überwinden und die Komplexität, Widersprüchlichkeit und Gewalthaltigkeit strategischer Zwangsumsiedlung aufzuzeigen. Gleichzeitig lassen sich durch die kritische Auswertung von Erfahrungsberichten unterschiedliche Handlungsspielräume, Widerstandsmöglichkeiten und Folgen entlang verschiedener sozialer Gruppen aufzeigen.
Die Studie ist in elf Kapitel gegliedert. Während in zwei einleitenden Kapiteln zunächst die verwendeten Begriffe, Methoden und analytischen Zugänge erläutert und begründet werden, sind die folgenden drei Kapitel als Überblick und Diskussion der Ereignisgeschichte der Zwangsumsiedlung in Kenia und Algerien mit ihren jeweiligen Vorläufern, regionalen Variationen und Konsequenzen sowie der massgeblichen Intentionen und Akteure der beiden Kolonialregime konzipiert.
Kapitel 6 bis 9 analysieren dann jeweils einen Aspekt der Erfahrungsgeschichte von Zwangsumsiedlung in vergleichender Perspektive. Zunächst werden dabei im 6. Kapitel Gewalterfahrungen und sozialer Wandel im Kontext von Guerillakrieg und Umsiedlung diskutiert. Dabei wird gezeigt, dass die Mechanismen von Bevölkerungskontrolle und Kollektivstrafen alle sozialen Beziehungen bis hin zur Ebene der einzelnen Haushalte und Familien erfassten. Obgleich die Vision einer sozialen Neuordnung und Modernisierung, wie sie beide spätkolonialen Umsiedlungsprogramme anstrebten, nicht verwirklicht werden konnte, zeigt die beschleunigte Zerstörung der traditionellen Sozialsysteme bis heute andauernde Wirkungen.
Das folgende Kapitel widmet sich den Alltagserfahrungen des (Über-) Lebens in den Umsiedlungslagern und neuen Dörfern. Neben einer Diskussion der Erfahrungen von Hunger, Krankheit, Enge und mangelnder Hygiene sowie der jeweiligen Versuche der Kolonialverwaltungen, das selbst geschaffene Elend zu mindern, wird in diesem Kapitel vor allem untersucht, wie die Betroffenen die spätkolonialen Versuche einer tiefgreifenden Transformation ihrer Lebens- und Wohnformen wahrnahmen.
In Kapitel 8 wird die radikale wirtschaftliche Umordnung der umkämpften ländlichen Gebiete und Gesellschaften fokussiert. Dabei zeigt sich einerseits, dass die Zwangsumsiedlung bereits bestehende Dynamiken des sozioökonomischen Wandels beschleunigte und verstärkte, vor allem das Verschwinden kleinbäuerlicher Lebens- und Wirtschaftsweisen und das Anwachsen eines besitzlosen, ländlichen Proletariats. Gleichzeitig wird in der Analyse lokaler und regionaler Umsetzungen des wirtschaftlichen Transformationsprogramms deutlich, dass der Kontext des Guerillakrieges und die etablierte Wirtschaftsstruktur als Siedlerkolonien solche Reformund Transformationsprogramme erheblich verkomplizierten und mitunter zu gewaltigen unerwünschten Effekten führten, allen voran zu einer massiven Land ucht und unkontrollierter Verstädterung.
Kapitel 9 als letztes Kapitel des Hauptteils nimmt umgesiedelte Frauen als quantitativ und qualitativ in besonderer Weise betroffene Gruppe von Akteurinnen und Opfern in den Blick. Während ein erheblicher Teil der spätkolonialen Reformpolitik spezi sch auf die Frauen in den Umsiedlungslagern abzielte, war deren logistischer und politischer Beitrag zum antikolonialen Widerstand gleichzeitig von existentieller Bedeutung für die jeweiligen Befreiungsbewegungen und daher heftig umkämpft. Die Erfahrungsberichte der betroffenen Frauen zeigen hier deutlich, dass sich Frauen und Mädchen innerhalb der Umsiedlungslager als konkrete Orte und als Systeme der Überwachung und Repression mit verschiedenen Formen von oftmals sexualisierter Gewalt, wirtschaftlicher Ausbeutung und widersprüchlichen sozialen Rollenerwartungen konfrontiert sahen. Gleichwohl erzählen die ehemals umgesiedelten Frauen nicht nur Erlebnisse von Ohnmacht und Unterdrückung, sondern auch von Subversion und erfolgreichen Strategien, in einer Situation existentieller und konstanter Bedrohung die eigene Würde zu behaupten.
Das vorletzte Kapitel der Studie diskutiert die Ergebnisse der vorhergehenden Kapitel im Vergleich mit den strategisch motivierten Zwangsumsiedlungen in Britisch-Malaya und Vietnam unter der Perspektive einer noch zu schreibenden Globalgeschichte der strategischen Zwangsumsiedlung, deren methodische und analytische Ausrichtung im letzten Kapitel skizziert wird.