Verwaltungen moderner Staaten funktionieren nach bürokratischen Prinzipien: Feste Regeln, eine auf diesen basierende Verteilung amtlicher Pflichten sowie der Grundsatz der Schriftlichkeit sollen sicherstellen, dass staatliche Tätigkeiten effizient und vorurteilsfrei ausgeführt werden. Dies wird insbesondere auch dann gefordert, wenn sich der Staat mit den Anliegen privater Staatssubjekte befassen muss. In solchen Situationen zeigt sich aber, dass hinter den starren bürokratischen Prinzipien mentalitätsspezifische Momente wirksam werden, die staatliche Entscheide mitbestimmen. Der Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit sind die Verwaltungspraktiken des Strafvollzugs, wobei diese am Beispiel der Strafanstalt Thorberg untersucht werden. Als Hauptquellenbestand dienen dazu die während des Untersuchungszeitraums in der Strafanstalt angelegten Insassendossiers. Diese Dossiers werden auf zwei Fragekomplexe hin untersucht.
Auf der einen Seite soll aufgezeigt werden, welcher biographischen Erfassungslogik beim Erstellen und Nachführen der Dossiers gefolgt wurde. Parallel dazu soll untersucht werden, welche Akteure in diesen Prozess involviert waren und wie gross deren Einfluss bei der Aushandlung der sozialen Identität der Insassen war.
Auf der anderen Seite wird ein mit der biographischen Erfassungslogik eng zusammenhängendes Phänomen untersucht: Das gesetzlich festgelegte Ziel des Strafvollzugs war es, das Verhalten der Strafanstaltsinsassen so zu bessern, dass diese wieder in die Gesellschaft integriert werden konnten. Doch weder vom Gesetz noch von der Strafanstalt selber waren klare Kriterien für die Überprüfung der erfolgten „Besserung“ der Insassen festgelegt worden. Trotzdem waren sich die darüber entscheidenden Instanzen meistens darin einig, wann eine „Besserung“ erfolgt war. Diese Einigung über eine erfolgte „Besserung“ war immer dann von Bedeutung, wenn ein Insasse bedingt entlassen werden sollte. Vor diesem Hintergrund wird in der Arbeit folgende Hypothese überprüft: Aufgrund fehlender rechtlicher Kriterien für die Überprüfung der „Besserung“ eines Strafanstaltsinsassen bildeten sich im Zuge der Verwaltungstätigkeit implizite Kriterien aus, auf welche die am Strafvollzug Beteiligten bewusst oder unbewusst zurückgriffen.
Die Arbeit ist so aufgebaut, dass sie in einem ersten Schritt die gesetzlichen Grundlagen für den Strafvollzug vergegenwärtigt, denn diese änderten sich mit dem In-Kraft-Treten des Schweizerischen Strafgesetzbuches auf den 1. April 1942 grundlegend.
In einem zweiten Schritt werden die am Strafvollzug beteiligten Verwaltungen und Institutionen hinsichtlich ihrer Funktion und ihres Einflusses auf die Entscheidung über eine bedingte Entlassung untersucht. Dazu gehören neben der Strafanstalt Thorberg der psychiatrische Dienst der Heil- und Pflegeanstalt Waldau, der Regierungsrat und die Polizeidirektion des Kantons Bern und der Schweizerische Verein für Straf-, Gefängniswesen und Schutzaufsicht.
Weiter wird mittels einer quantitativen Analyse untersucht, ob bei der Beurteilung von Insassen hinsichtlich einer bedingten Entlassung auf zeitgenössisch oft diskutierte, objektive Kriterien, wie die Anzahl Vorstrafen, die Art des verübten Delikts oder die verhängte Strafart zurückgegriffen wurde.
Schliesslich wird anhand von zwei repräsentativen Fallrekonstruktionen im Sinne einer systematischrekonstruktiven Hermeneutik versucht, einerseits die biographische Erfassungslogik und andererseits der Rückgriff auf spezifische Entlassungskriterien zu rekonstituieren.
Die aus der Lizentiatsarbeit hervorgehenden Erkenntnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die biographische Erfassung von personenspezifischen Daten folgte zwei komplementären Mustern. Einerseits orientierte sie sich an einer formalen, durch den Ablauf der Verwaltungspraxis gegebenen und andererseits an einer ereignisorientierten Logik. Letztere verweist darauf, dass neben den formalen Aspekten, wie den Personalien oder den Vorstrafen auch ausseralltägliche Ereignisse, wie Krankheitsfälle, Ausbruchsversuche und andere Aktivitäten der Insassen aufgezeichnet wurden.
Weiter zeigte sich, dass die Arbeitsleistung eines Insassen die Grundlage für die Entscheidung darüber war, ob eine bedingte Entlassung gewährt werden konnte oder nicht. Zeigte ein Insasse eine gute Arbeitsleistung wurde er mit grosser Wahrscheinlichkeit bedingt entlassen, selbst wenn seine Führung noch zu wünschen übrig liess. Umgekehrt verhinderte eine schlechte Arbeitsleistung in jedem Fall eine bedingte Entlassung.
Demnach hatte die Arbeit im Strafvollzug in mehrfacher Hinsicht grosse Bedeutung. Sie war Erziehungsziel und Erziehungsinstrument zugleich. Zum einen sollten durch die Arbeit manuelle Fertigkeiten erworben und zum andern bürgerliche Tugenden vermittelt werden. Weiter war die Arbeitsleistung, hinter der impliziten Annahme, dass eine gute Arbeitsleistung nicht vorgetäuscht werden kann, sondern in jedem Fall Zeugnis einer authentisch erfolgten „Besserung“ ist, das zentrale Beurteilungskriterium für die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug.