Vera Figner: Märtyrerin, Vitruosin und Gewalttäterin. Annäherung an die Biografie einer russischen Terroristin der 1870er und 1880er Jahre

AutorIn Name
Stephan
Rindlisbacher
Academic writing genre
Licenciate thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Marina
Cattaruzza
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2005/2006
Abstract

Weshalb und unter welchen Umständen entscheidet sich ein Mensch zum Gebrauch von gewaltsamen Mitteln, um seine politische Überzeugungen durchzusetzen? Diese Frage ist der Ausgangspunkt dieser Lizentiatsarbeit. Sie soll exemplarisch anhand der Biographie der russischen Terroristin Vera Figner (1852–1942) behandelt werden.

 

Vera Figner entstammte wie die meisten russischen Terroristen und Terroristinnen der 1870er und 1880er Jahre der Adelsschicht des Russischen Reiches. Sie studierte zunächst in Zürich und Bern Medizin, um sich als Ärztin um das „leidende russische Volk“ kümmern zu können. In der Schweiz schloss sie enge Bekanntschaften zu radikalsozialistischen Zirkeln, welche die autokratische Ordnung in Russland stürzen und diese durch ein gerechtes basisdemokratisches System (obščina) ersetzen wollten. Zurück in Russland versuchten diese Radikalreformer (narodniki) zunächst friedliche Mittel zur Erreichung ihrer Ziele anzuwenden. Als sie (unter anderem) an der repressiven Haltung des autokratischen Staates scheiterten, entschloss sich ein Teil dieser Narodniki, dem Staat ebenfalls mit gewaltsamen Mitteln entgegenzutreten. So wurde 1879 die Partei Narodnaja volja (Volkswille) mit einem explizit terroristischen Programm gegründet. Durch die Ermordung einzelner herausragender Repräsentanten des Regimes sollte die Autokratie gestürzt werden. Diese terroristische Überzeugung wurde auch von Vera Figner geteilt und sie schloss sich dieser Partei an. Das Attentat gegen Alexander II. 1881 stellte den „grössten Erfolg“ von Narodnaja volja dar. Doch der anschliessenden Repression fielen fast alle entscheidenden Mitglieder zum Opfer. Einzig Vera Figner blieb bis 1883 in Freiheit und versuchte mit aller Kraft, die Parteistrukturen am Leben zu halten. Es gelang ihr in der russischen Öffentlichkeit das Bild von einer allgegenwärtigen und zu allem entschlossenen Partei aufrecht zu erhalten. Sie galt in den Augen des Regimes als Staatsfeind Nr. 1. Dagegen wurde sie in revolutionär gesinnten Kreisen verehrt. Nach ihrer Verhaftung wurde sie zum Tode verurteilt, dann aber von Alexander III. begnadigt. Sie verbrachte 20 Jahre im Gefängnis. Nach ihrer Freilassung blieb sie in sozialrevolutionären Zirkeln aktiv. Während ihres Exils in Westeuropa von 1906 bis 1915 baute sie eine Organisation auf, die Gelder zugunsten von politisch Gefangenen in Russland sammelte. Nach der Oktoberrevolution blieb sie in Russland, obwohl sie der Politik der Bol’ševiki kritisch gegenüberstand.

 

Im Zentrum der Arbeit stehen einerseits die Einflüsse, welche die soziale Entwicklung von Vera Figner bestimmt haben: die Kindheit in der russischen Provinz, wo die traditionellen Vorstellungen in einen immer stärkeren Konflikt mit den Ideen nach radikalen Reformen, die seit dem Regierungsantritt Alexander II. in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert wurden, gerieten. Andererseits wird gezeigt, dass die radikalen Gruppen, denen Vera Figner sich anschloss, als Gemeinschaften von Virtuosen im Sinne von Max Weber und Klaus-Georg Riegel interpretiert werden können. Die Mitglieder schlossen sich gegenüber der Aussenwelt ab, die sie als verdorben empfanden. Sie nahmen in ihrer Gemeinschaft von „neunen Menschen“, die sich durch einen asketischen Lebenshaltung auszeichnete, die imaginierte zukünftige Ordnung bereits vorweg. Diese asketische Haltung diente später als Legitimationsgrundlage zur Ausübung von Gewalt gegen ausgesuchte Vertreter des Regimes. Die hohen moralischen Werte der Terroristen waren kein Selbstzweck, sondern die argumentative Basis der Gewaltausübung. 

 

Daneben behandelt die Arbeit auch die Frage, weshalb so viele Frauen sich in dieser revolutionären Bewegung engagierten. Es kann gezeigt werden, dass mit Ausnahme von den revolutionären Zirkeln keine andere gesellschaftliche Gruppe die vollkommene Emanzipation der Frauen unterstützte. Revolutionärin war im damaligen Russland eine der wenigen „Karrieremöglichkeiten“ für Frauen, die sich nicht mehr ins traditionelle Muster pressen lassen wollten. Die Emanzipation der Frau betrachtete Vera Figner jedoch nicht als etwas Besonderes an sich. Sie war für Vera Figner nur ein Teil einer umfassenden sozialen Emanzipation. Durch die Revolutionierung aller sozialen Verhältnisse sollten ihrer Ansicht nach die Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, dass sich alle Individuen (Männer und Frauen) gemäss ihren Neigungen entfalten können und ihre Fähigkeiten dann in den Dienst der gesamten Gesellschaft stellen sollten.

Access to the work

Library

Academic works are deposited in the library of the university where they originated. Search for the work in the central catalogue of Swiss libraries