Als Michail Sergejewitsch Gorbatschew am 11. März 1985 zum Generalsekretär der KPdSU als Nachfolger von Konstantin Tschernenko gewählt wurde, befand sich die UdSSR in einer Phase der Stagnation. Im Jahre 1983 hatte die sowjetische Wirtschaft zwar einen kurzfristigen Aufschwung erlebt, doch die Erfüllung des laufenden elften Fünfjahresplanes konnte bei weitem nicht erreicht werden. Ideologische Beteuerungen veranlassten mehr Hohn und Spott, statt ein grösseres Engagement und Vertrauen zu schaffen. Auch die von Leonid Breschnew lancierte Politik der „stabilen Kader“ hatte nicht den gewünschten Erfolg gezeigt.
Der neue Generalsekretär distanzierte sich sehr bald von seinen Vorgängern und kündigte bereits in seiner Antrittsrede radikale Reformen in der Wirtschaft sowie eine Erneuerung der Sowjetgesellschaft an. Die neue Politik wurde anfangs unter dem Begriff Uskorenie (Beschleunigung) propagiert und war primär auf den wirtschaftlichen Bereich ausgerichtet. 1986 wurde Uskorenie durch die Losung Perestroika (Umbau, Umgestaltung) abgelöst und weitgehende Reformen wurden durchgeführt. Es kam zu personellen Umbesetzungen in der Parteispitze und in der Verwaltung; demokratischere Wahlen wurden durchgeführt; die Rolle der Sowjets aufgewertet und in der Wirtschaft wurden einzelne marktwirtschaftliche Elemente zugelassen. Ein weiterer Schlüsselbegriff wurde Glasnost (Offenheit, Öffentlichkeit, Transparenz), der für den freieren Zugang zu Informationen, die Diskussion von Problemen und Unstimmigkeiten, die Lockerung der Zensur, die Auseinandersetzung mit der Herrschaftszeit Stalins und die Transparenz in den wirtschaftlichen sowie politischen Entscheidungen stand. In der Aussenpolitik war ebenfalls ein „neues Denken“ erkennbar; es stand nicht mehr die Politik der Stärke im Vordergrund, sondern das Streben nach mehr Kooperation und eine allmähliche Abrüstung.
Die damaligen innen- und aussenpolitischen Entwicklungen der Sowjetunion wurden auch im Westen mit grossem Interesse beobachtet. Die Lizentiatsarbeit untersucht die Rezeption von Gorbatschews wirtschaftlichen und innenpolitischen Reformen in der Periode von 1985 bis 1988, wobei die Fragestellung auf die von den „NZZ“Journalisten gemachte Bewertung der Ereignisse und Entwicklungen sowie auf einen allfälligen Perzeptionswandel gerichtet ist.
Aus der chronologisch-thematischen Analyse lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen: Der Amtsantritt von Gorbatschew als neuer Generalsekretär der KPdSU wurde 1985 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ als eine Zäsur bewertet; jedoch mehr aufgrund seines jungen Alters und weniger aufgrund der Vermutung, dass er die sowjetische Politik verändern würde. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern wurde Gorbatschew als Person um einiges positiver bewertet, trotzdem ist eine nach wie vor abneigende Haltung gegenüber der UdSSR zu spüren und die „NZZ“ warnte vor einer allzu grossen Sympathie sowie vor der Projektion von Wunschbildern. Dies deutet darauf hin, dass die „NZZ“ von einer nicht allzu starken Veränderbarkeit der sowjetischen Politik und des Systems an sich ausging.
Der Wille von Gorbatschew, Reformen durchzuführen, und die Tatsache, dass er die Probleme offen darlegte, wurden zwar positiv bewertet, doch findet sich die Kritik, dass es lediglich bei Worten bleibe und sowohl Taten wie auch konkrete Massnahmenvorschläge ausblieben. Diese Kritik verstärkte sich mit der Zeit; seine nach den wirtschaftlichen Reformen lancierten Demokratisierungsansätze wurden in der „NZZ“ als neues Allheilmittel für sämtliche Probleme bewertet, nachdem die Wirtschaftsreformen nicht den gewünschten Erfolg gebracht hätten. Teilweise ist in der Bewertung der unterschiedlichen Reformen von Gorbatschew auch eine gewisse Ironie spürbar.
Interessant ist, dass sich die Begriffe Perestroika und Glasnost relativ schnell zu Schlagwörtern in der „NZZ“ entwickelten; das russische Wort für Beschleunigung, Uskorenie, wurde hingegen nicht ein einziges Mal erwähnt.
Explizite Hypothesen für die Zukunft Gorbatschews und der UdSSR finden sich in der „NZZ“ nicht; nur ein paar Mal wird die Frage in den Raum gestellt, ob das System überhaupt refor- mierbar sei, ohne dass es sich selbst auflöst.