Unentbehrliche Eisenbahn“. Die Finanznot der schweizerischen Privatbahnen 1918-1983

AutorIn Name
André
Kirchhofer
Academic writing genre
Licenciate thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Pfister
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2002/2003
Abstract

Nach dem Ersten Weltkrieg, als sich das Automobil von technischen Restriktionen löste, verlor der Schienenverkehr sein bisheriges faktisches Transportmonopol. Zugleich gerieten die Bahnunternehmen dauerhaft in finanzielle Nöte und damit unter Druck, verlustreiche Strecken in peripheren Gebieten stillzulegen. In den westlichen Industriestaaten reagierten die Verantwortlichen mit einem Rückzug aus der Fläche – die Bahnen zirkulier(t)en vorwiegend auf aufkommensund folglich ertragsstarken Haupttransversalen zwischen Industrie- und Bevölkerungszentren. Die Schweiz hingegen besitzt, was mindestens europaweit eine Ausnahme darstellt, (noch) ein fein verzweigtes Streckennetz: Privatbahnen, die seit 1918 vom Staat finanziell alimentiert werden, garantieren zusammen mit den SBB über das ganze Land hinweg eine gemeinwirtschaftliche Verkehrsbedienung – oder moderner formuliert: einen Service public.

 

Vor diesem Hintergrund fokussiert die Lizentiatsarbeit zunächst auf die Ursachen der Finanzmisere, ohne indes den Anspruch zu erheben, diese ex post zu erklären. Zu heterogen präsentiert sich das vorhandene Zahlenmaterial, als dass dies in einer ersten Studie möglich gewesen wäre. Die statt dessen gewählte Methode besteht darin, sich dem Problem aus zeitgenössischer Sicht anzunähern: jene Interpretationsmodelle auf ihren Inhalt und vor allem diachronen Wandel hin zu überprüfen, die jeweils betriebs- und volkswirtschaftlich ausgebildete Verkehrswissenschafter bereithielten. Als Ergebnis lassen sich zwei Analysen ausmachen, die einander diametral widersprechen. Eine ältere Theorie – allgemeingültig in der Zwischenkriegszeit – unterstellte, dass sich die Eisenbahn im Wettbewerbsnachteil zum Automobil befand, weil staatliche Auflagen sie zu finanzwirksamen gemeinwirtschaftlichen Leistungen zwangen. Ein jüngeres, ab den 1960er Jahren dominantes Deutungsmuster hingegen behauptete umgekehrt eine Bevorzugung der Bahnen: Der Bund unterstütze die Eisenbahn finanziell stärker als den Strassenverkehr, was bezüglich Finanznot jedoch kontraproduktiv sei, da die Unternehmen jeglichen Anreiz verlören, eigenwirtschaftlich zu arbeiten. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive, das heisst mit Blick auf den verkehrlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel, ergibt sich aus dieser Bipolarität, dass jede Erklärung allenfalls für ihre Zeit zutrifft: So wie sich der Verkehrsmarkt und die ihn bedingenden Strukturen wandelten, änderten auch die Ursachen der Finanznot sowie deren zeitgenössische Interpretation. Exakteres lässt sich so lange nicht aussagen, bevor eine historische Studie die möglichen von der Verkehrswissenschaft je geltend gemachten Faktoren zeitübergreifend quantitativ rekonstruiert und gewichtet. Unzulässig aber ist es, pauschalisierend die ältere These fortzuschreiben, wie dies die moderne, technikzentrierte Fachliteratur bisher tat: Das finanzielle Malaise der Bahnen darf nicht für das ganze Jahrhundert ausschliesslich auf ihre gemeinwirtschaftlichen Pflichten zurückgeführt werden.

 

Mit dem Ziel, den theoretischen Diskurs über die Finanznot mit dem praktisch-politischen zu verknüpfen, interessiert ferner das staatliche Engagement: Wie und warum unterstützten der Bundesrat und das Parlament die Privatbahnen? Lanciert wurde die erste Hilfsaktion, die insofern eine Zäsur setzte, als vorher lediglich die SBB profitiert hatten, 1918, sehr rasch nach der ersten betrieblichen Krise der Unternehmen. Galten damals noch recht rigorose Bestimmungen, kehrte allmählich eine weniger strikte Praxis ein – ständig nahm die punktuell geleistete Finanzhilfe grössere Dimensionen an. Am 1. Juli 1958 schliesslich trat ein revidiertes Eisenbahngesetz in Kraft, das sogar regelmässige, das heisst alljährliche Zahlungen auslöste. Selbst als wenig später dem Bundeshaushalt ein Defizit drohte und sich der Spardruck erhöhte, blieb die Ausweitungs- Strategie verbindlich: Die eidgenössischen Räte duldeten keinerlei Abstriche an den Hilfsaktionen; alle finanzpolitisch und sachlich motivierten Angriffe aus der Bundesverwaltung scheiterten. Legitimiert wurde dieses Vorgehen über all die Jahre in einer Weise, die mit der Denktradition der älteren Verkehrswissenschaft genau korrespondierte: Die Bahnen, so deplorabel ihre Situation auch war, galten sowohl der Exekutive als auch der Legislative als unentbehrliches Entwicklungsinstrument für Wirtschaft, Staat und Bevölkerung. Vornehmlich Vertreter aus Randregionen erläuterten anhand von konkreten Zahlenbeispielen, welch wichtige gemeinwirtschaftliche, doch zugleich kostenintensive Aufgabe die Privatbahnen erfüllten – um zugleich an die nationale Solidarität zu appellieren, genau diese Unternehmen vor dem Ruin zu retten.

 

Zur Resistenz, durch die sich die Rechtfertigung der Finanzhilfe also gegenüber allem verkehrlichen und verkehrswissenschaftlichen Wandel auszeichnete, lässt sich vorderhand auf schmaler Literaturbasis nur vermuten, dass ausserökonomische, teils irrational-mentalitätsbedingte Einflüsse mitwirkten: der unbedingte, oft in Kundgebungen geäusserte Wille der Bevölkerung, „ihre“ Bahn zu erhalten; der dadurch ausgeübte Druck auf die an einer Wiederwahl interessierten Parlamentarier; personelle Verflechtungen (Lobbying); der Einfluss der an Bundesgeldern interessierten Kantone. Kurz gesagt: Anstatt einer Kostenrationalität, wie sie in der jüngeren Verkehrswissenschaft dominierte, unterlag der politische Entscheidungsprozess offenbar Einflüssen jenseits mathematischer Berechenbarkeit. Und genau dieser Befund macht es reizvoll, der nach wie vor offenen übergeordneten Frage vertiefter nachzugehen, weshalb nur die Schweiz ihr Eisenbahnsystem zu konservieren vermochte.

 

Die Arbeit wird in der Reihe „Berner Forschungen zur Regionalgeschichte“ vom Verlag Traugott Bautz publiziert (www.bautz.de).

Access to the work

Library

Academic works are deposited in the library of the university where they originated. Search for the work in the central catalogue of Swiss libraries