Tochter-Mutter-Beziehung und weibliche Handlungsspielräume in den Briefen von Sophie Effinger

AutorIn Name
Judith
Neuenschwander
Academic writing genre
Master thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
André
Holenstein
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2022/2023
Abstract

Im Jahr 1785 schrieb die junge Berner Patrizierin Henriette Elisabeth Effinger (1764 – 1789) an ihre Mutter: „Maman vous qui étes si bonne qui me laissés si genereusement la Maitresse de mon sort“. Diese Selbstwahrnehmung, Herrin des eigenen Schicksals zu sein – wohlgemerkt dank dem Segen ihrer Mutter –, ist bemerkenswert.

Ziel der Masterarbeit ist es, sich mit dem Leben Henriette Effingers und ihren Handlungsspielräumen sowie der Beziehung zu ihrer Mutter auseinanderzusetzen und somit einen Beitrag zur Familien- und Geschlechtergeschichte zu leisten. Von Henriette Effinger sind insgesamt 64 Briefe aus dem Zeitraum zwischen 1782 und 1788 an ihre Mutter Henriette Rosina Effinger von Wattenwyl (1746–1812) erhalten. Über das Leben von Henriette Effinger war bisher wenig bekannt, obwohl die Briefe ein vielfältiges und reichhaltiges Quellenmaterial darstellen: Sie geben Einblick in die Lebenswelt einer jungen unverheirateten Patrizierin, die zwischen den Anforderungen ihres Standes und den eigenen Wünschen steht.

Die methodische Grundlage der vorliegenden Arbeit wird neben theoretischen Überlegungen zur Quellengattung der Briefe und Selbstzeugnisse durch die Subjekttheorie von Andreas Reckwitz erweitert. Dabei stehen zum einen die Frage nach Henriettes Subjekt und zum andere jene nach der im bernischen Patriziat vorherrschenden Subjektkultur im Mittelpunkt. Wurden die Patrizier:innen eher von der bürgerlichen oder der aristokratischen Subjektkultur geprägt oder müsste eine neue patrizische Subjektkultur definiert werden, um das Patriziat angemessen erfassen zu können?

Um diese Fragen beantworten zu können, werden im Hauptteil der Arbeit Henriettes Selbstverständnis als Patrizierin, Frau und Tochter, wie sie aus den Briefen greifbar werden, untersucht. Dabei wurde deutlich, dass Henriette massgeblich durch ihr Umfeld sozialisiert wurde und einen spezifisch patrizischen Lebensstil erwarb. Dieser machte sich vor allem an Henriettes Teilnahme

an verschiedenen geselligen Anlässen des bernischen Patriziats bemerkbar. Ihr Selbstverständnis als Patrizierin und ihr Standesbewusstsein zeigten sich auch im Umgang mit den Männern, die sie heiraten wollten. In Bezug auf eine Heirat liess sich Henriette Effinger aber nicht nur von familienökonomischen Überlegungen leiten, sondern forderte auch die gegenseitige Wertschätzung und Liebe zwischen Mann und Frau als Bedingung für eine Heirat ein. Da keiner ihrer Bewerber ihren Erwartungen entsprach und sie eine Heirat als starke Einschränkung ihrer persönlichen „Freiheit“ empfand, entschloss sie sich, ledig zu bleiben.

Die Analyse von Henriette Effingers Äusserungen zum Thema Heirat und den damit verbundenen Geschlechterrollen zeigt ihr Geschlechterbewusstsein und auch eine gewisse Solidarität mit ihrem Geschlecht. Henriettes Mutter überlässt ihrer Tochter die Entscheidung über deren eigene Zukunft und akzeptiert deren Wunsch, ledig zu bleiben, wenn auch nur widerwillig. Diese unterschiedlichen Vorstellungen, was Henriettes Leben betrifft, führten zu Konflikten zwischen Tochter und Mutter. Diese Konflikte zeugen aber zugleich von der Intimität, die in der Tochter-Mutter-Beziehung vorherrschend war.

Neben dieser persönlichen und intimen Ebene war die Korrespondenz auch von erzieherischen Aspekten geprägt und wies eine klar hierarchische Struktur auf. Die Briefe dienten Henriettes Mutter als Disziplinierungs- und Kontrollmittel und machten somit klar, dass die Erziehung der Tochter weder mit 17 noch mit 24 Jahren am Ende der Korrespondenz abgeschlossen war.

Die Erkenntnisse aus Henriettes Lebenswelt führen zur Einsicht, dass Henriette zwischen der bürgerlichen und der aristokratischen Subjektkultur, wie sie Reckwitz skizziert hat, stand. Sie lässt sich nicht klar der bürgerlichen Subjektkultur zuordnen, weil ihre Persönlichkeit zu viele Elemente der aristokratischen Subjektkultur aufweist. Henriettes Nähe zum bürgerlichen Intimitäts- und Familiensubjekt erlaubt es wiederum nicht, sie als Vertreterin der aristokratischen Subjektkultur zu sehen.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Notwendigkeit einer weiteren Subjektkultur – die patrizische Subjektkultur. Die symbiotische Verbindung von bürgerlichen und aristokratischen Elementen macht das Patriziat aus. Insbesondere

dieses Dazwischenstehen bestärkt demnach einmal mehr die patrizische Eigenart. Die Auseinandersetzung mit der Korrespondenz zwischen Tochter und Mutter eröffnete einen Zugang zu den verschiedenen Facetten von Henriettes Subjekt, soweit dieses in deren Briefen fassbar wird, und erlaubte es, Henriette als junge, selbstbestimmte und gebildete Frau fassbar zu machen.

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