Stillen und Bürgerlichkeit: Stillpropaganda in den Anfängen der Säuglingsfürsorge in St. Gallen zu Beginn des 20. Jahrhunderts

AutorIn Name
Marco
Dal Molin
Academic writing genre
Master thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
PD Dr.
Daniel Marc
Segesser
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2022/2023
Abstract

Das Aufkommen der Pädiatrie und der Säuglingspflege Ende des 19. Jahrhunderts rückte nicht nur die gesunde Entwicklung von Neugeborenen verstärkt ins Blickfeld des medizinischen Personals, sondern weckte auch ein neues Interesse an den gesundheitlichen Aspekten des Stillens. Im Zuge eines globalen Stilldiskurses galt Muttermilch bald als Allheilmittel gegen die grassierende Säuglingssterblichkeit und sinkende Geburtenraten. Für die St. Galler Ärztin Frida Imboden-Kaiser (1877 – 1962) war es der „Zaubertrank Frauenmilch‟, dessen Einsatz bei kranken Säuglingen „oft fast ans Wunder grenzende Heilung‟ bewirkt habe. Unterstützung erfuhren die frischgebackenen Mütter in neu geschaffenen Säuglingsfürsorge- und Mütterberatungsstellen. Ratgeberbroschüren und Ausstellungen erklärten das Stillen zur obersten und „heiligsten‟ Pflicht jeder verantwortungsvollen Mutter. Dem damaligen Präventionsparadigma in der Medizin entsprechend, durfte aus Sicht der Ärzt:innen und Pädiater:innen bei der Pflege und Erziehung der Säuglinge nichts mehr dem Zufall überlassen werden.

 

Die Masterarbeit greift diese Thematik auf und untersucht am Beispiel der Stillkampagne in St. Gallen, wie die populäre Verbreitung von ärztlichem Wissen zum Umgang mit Neugeborenen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bürgerliche Familien- und Rollenbilder sowie Moral- und Sittlichkeitsvorstellungen transportierte und verfestigte. Als Untersuchungsgegenstand dienen die Aktivitäten der Ärztin Frida Imboden-Kaiser. Sie gilt als Begründerin der Säuglingsfürsorge in St. Gallen. Als prominente Stillbefürworterin nutzte Imboden-Kaiser für ihren „Feldzug für die natürliche Brusternährung‟ vielfältige Kommunikationsformen und orientierte sie sich an Erfahrungen und Argumentationen in anderen Städten und Ländern.

 

Die Untersuchung von Informationsbroschüren und Ausstellungsmaterialien aus der Anfangsphase der Säuglingsfürsorge in St. Gallen zeigt auf, wie medizinische Autoritäten durch konkrete Handlungsanweisungen immer auch ihre Vorstellungen von Mutterschaft verbreiteten. Konzeptionell orientiert sich die Arbeit dabei am Begriff der „scientific motherhood‟. Es handelt sich dabei um die Vorstellung, dass Frauen fachkundigen wissenschaftlichen und medizinischen Rat benötigen, um ihre Kinder gesund aufziehen zu können. Der moralische Impetus der sich durch die Ärzteschaft und Fürsorgestellen verbreiteten, entfaltete dabei eine disziplinierende Wirkung auf die Frauen, insbesondere aus der Arbeiterschaft. Die Arbeit zeigt, dass die Etablierung der Säuglingsfürsorge und des Stillens als „Mutterpflicht‟ auch als Ausdruck einer „Verbürgerlichung‟ breiter Bevölkerungskreise gelesen werden kann, die der Verbreitung traditionell-dualer Geschlechter- und Familienverhältnissen Vorschub leistete. Diese Entwicklung wurde, wie die Masterarbeit abschliessend zeigt, durch zwei entscheidende Faktoren begünstigt, die im Kern das Verantwortungsgefühl der Frauen „als Mütter‟ zum Ziel hatten: Erstens ein neues, nationales Interesse am Kind, das dafür sorgte, dass dem Überleben des Nachwuchses überhaupt eine ausreichend grosse Bedeutung zugemessen wurde, sowie zweitens die Aufwertung der Hausarbeit im Zuge eines globalen Hygienediskurses. Letztere schuf den notwendigen Raum für die immer konkreteren Handlungsanweisungen im Bereich der Säuglingspflege.

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