Recht und Gesetz. Ein konfligierendes Verhältnis im 16. Jahrhundert. Das bischöflich-augsburgische Tigen Rettenberg als Beispiel

AutorIn Name
Philipp
Dubach
Academic writing genre
PhD thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Peter
Blickle
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2000/2001
Abstract

Im 15. und 16. Jahrhundert gewann die Gesetzgebung in den Territorien und im Heiligen Römischen Reich nördlich der Alpen eine neue Qualität. Es wurden in bislang unbekanntem Mass Gesetze erlassen, die das Verhalten breiter Bevölkerungsschichten in detaillierter Form regelten. Die Frage, welche Bedeutung die Verfassung eines Gemeinwesens bei der Ausbildung von Gesetzen spielte, ist in der Forschung bisher kaum erörtert worden. Es ist aufschlussreich, das Amt Rettenberg und das Land Appenzell in dieser Hinsicht zu vergleichen, weil beide Räume in ihrer Grösse, den wirtschaftlichen, geographischen und sozialen Verhältnissen sehr ähnlich waren. Sie unterscheiden sich jedoch in ihrer politischen Verfassung. Das Amt Rettenberg war der Verwaltungsbezirk eines geistlichen Fürstenstaates; das Land Appenzell kann in analytischer Verwendung eines zeitgenössischen Begriffs als Republik bezeichnet werden.

 

In Appenzell erliess man die ersten Gesetze zu Beginn des 15. Jahrhunderts, kurz nachdem das Land sich von der Herrschaft des Klosters St. Gallen befreit hatte. Die ältesten Normen befassten sich mit der Friedenssicherung, dem Erbrecht und Konflikten um landwirtschaftliche Nutzungsrechte. Dazu kamen verfassungsrechtliche Normen, die Aspekte der Tätigkeit von Gerichten und Ratsgremien regelten. Das Spektrum erweiterte sich im späten 15. Jahrhundert ansatzweise, in der Mitte des 16. Jahrhunderts dann nachhaltig. Es umfasste neu Vorschriften zur sittlichen und religiösen Lebensführung, zum Konsumverhalten, zu Armut und Bettel, zum Geld- und Kreditwesen oder zu kommerziellen Aspekten der Vieh- und Landwirtschaft. Die Klimaverschlechterungen, die in den späten 1560er Jahren einsetzten, und die darauf folgenden Versorgungskrisen führten zu verstärkten Eingriffen in Handelsbeziehungen. Weil die Kälteeinbrüche und ihre Folgen als Strafen Gottes gedeutet wurden und sich der materielle Spielraum der Haushalte verengte, verschärften die Ratsherren parallel dazu die Sittengesetze und grenzten den politischen Verband zunehmend gegen aussen ab.

 

Im Pflegamt Rettenberg lassen sich weniger deutliche Entwicklungslinien feststellen. Von einer Strafordnung aus dem Jahr 1434 abgesehen, wurde bis zum Ende des 15. Jahrhunderts kein Gesetz erlassen. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts war die regionale Normbildung und -adaption von grösserer Bedeutung als die territoriale Gesetzgebung. Dabei hatte auch die Korporation der Rettenberger Bauern, das sogenannte «Tigeni»Rettenberg, an der Gesetzgebung teil. Die Verhältnisse änderten sich ab der Jahrhundertmitte, als die Bischöfe für einzelne Regelungsbereiche (Gerichtsverfassung, Forst und Jagd, später auch Religion) umfangreiche Ordnungen in Kraft setzten. Wie in Appenzell war das vergeltungstheologische Denken das wichtigste Argumentationsmuster. Als sich die Rettenberger Bauern 1605 gegen ihre Herrschaft erhoben, zeigte sich, dass Obrigkeit und Untertanen unterschiedliche Auffassungen über die Geltung von Gesetzen und die Legitimität der herrschaftlichen Strafpraxis vertraten. Während die Bauernschaft sich auf den Normvollzug konzentrierte und in unterschiedlicher Weise Konsentierungsansprüche erhob, verwies die hochstiftische Regierung im Konfliktfall auf das Gesetz und interpretierte die Diskrepanz zwischen niedergeschriebener Norm und gelebter Praxis zu ihren Gunsten als Vollzugsdefizit. Die Differenzen führten dazu, dass sich die Obrigkeit nach der bäuerlichen Niederlage das Satzungsrecht als ein besonderes Herrschaftsrecht sicherte.

 

Die Verbindungen zwischen Verfassung und Gesetzgebung lassen sich zusammenfassend in vier Thesen formulieren:

(i) Die fürstenstaatliche Verfassung förderte die Verschriftlichung von Normen in geringerem Mass als die republikanische Verfassung.

Im Hochstift Augsburg konnte die Zentrierung von Herrschaft auf eine Person zwar bei Machtwechseln zu Kontinuitätsproblemen führen, dazwischen aber war Herrschaft dauerhaft symbolisch repräsentiert. In Appenzell dagegen war die politische Gewalt des Gesetzgebers nur in Ausnahmefällen konkret fassbar. Dieser Unterschied dürfte dafür verantwortlich sein, dass autoritativ gesetzte Normen in Appenzell ungleich früher verschriftlicht und in einem Buch zusammengestellt wurden. Die Niederschrift erlaubte es, die Geltung einer Norm unabhängig von der Handlungsfähigkeit der gesetzgebenden Instanz zu garantieren und gleichzeitig die herkömmliche Machtverteilung zu wahren.

(ii) Die politischen Entscheidungsträger Appenzells besassen republikanische Werthaltungen, die sich in den Gesetzesinhalten, in der Normbildung und im Normvollzug niederschlugen. Die republikanische Verfassung war kein zufälliges Produkt der Appenzellerkriege, sondern wurde durch mehrere Gesetze des 15. und 16. Jahrhunderts gefestigt. Die Landleute verabschiedeten Normen, die zur Redefreiheit beitrugen, die Macht der Landsgemeinde festigten, Wahlmanipulationen verboten und mit der Eingliederung der Geistlichen in den ap penzellischen Gerichtsverband die rechtliche Gleichheit förderten. Gesetze wurden in Appenzell nur in Ausnahmefällen von kleinen Ratsgremien verabschiedet. Im Normvollzug vermied man es, einzelnen Personen Strafkompetenzen zuzuschreiben, und man band die Richter an den Wortlaut der Gesetze, um willkürliche oder parteiische Urteile zu vermeiden. Im Vergleich dazu stärkte die ordnungspolitische Gesetzgebung in Rettenberg die Stellung der Amtleute im Normvollzug und gestand die Regierung ihnen absichtlich einen beachtlichen Ermessensspielraum zu.

(iii) Die fürstenstaatliche Verfassung war für Anliegen der breiten Bevölkerung weniger durchlässig als die republikanische Verfassung. Die Appenzeller Ratsherren waren in Appenzell nicht nur politisch von den Landleuten legitimiert, sie waren auch vor Ort wohnhaft und in das Gemeinwesen integriert, für das sie Gesetze verabschiedeten. In Rettenberg prägten dagegen räumliche und soziale Distanz das Verhältnis von Bauernschaft und hochstiftisch-augsburgischer Regierung. Die unterschiedlichen Beziehungen von Normgebern und Normadressaten dürften zahlreiche inhaltliche Differenzen in der Gesetzgebung erklären. So wurde in Appenzell besonderer Wert auf die Garantie des Friedens und die Subsistenzsicherung der Haushalte gelegt. Im Hochstift Augsburg dagegen diffamierten die Gerichtsordnungen die bäuerlichen Rechtsprecher und wurde die Gesetzgebung zur Nutzung natürlicher Ressourcen von einem latenten Interessengegensatz zwischen Normadressaten und Normgebern angetrieben. In der Religionsgesetzgebung kam es zu einer offenen Auseinandersetzung zwischen Obrigkeit und Untertanen. Damit soll nicht behauptet werden, dass in Appenzell keine Interessenkonflikte zwischen den Gesetzgebern und der übrigen Bevölkerung auftreten konnten. Es gibt aber keine Hinweise dafür, dass das Gesetzgebungsrecht von einer kleinen Minderheit zur Durchsetzung ihrer politischen und wirtschaftlichen Interessen missbraucht worden wäre.

(iv) Das Land Appenzell beharrte nach seiner Emanzipation von der Herrschaft des Klosters St. Gallen in stärkerem Mass als das Hochstift Augsburg auf seiner Autonomie gegenüber supraterritorialen Verbänden. Dies zeigt sich darin, dass in den Appenzeller Gesetzen Verweise auf übergeordnete Beschlüsse des Reiches oder der eidgenössischen Tagsatzung weitgehend fehlen. Die Annahme eines besonders ausgeprägten Unabhängigkeitsbewusstseins bildet zudem eine plausible Erklärung für den Sachverhalt, dass die Gesetzgebung in Appenzell formal geschlossener war als in Rettenberg und im Hochstift Augsburg. Dass die Gesetzgeber faktisch auf Anstösse anderer politischer Verbände reagierten, wird damit nicht bestritten. Bei der Umsetzung dieser Anregungen wurde in Appenzell jedoch viel mehr Wert als in Rettenberg darauf gelegt, die innere Kohärenz und die Unabhängigkeit des Normengeflechts zu wahren.

 

Die beiden Fallbeispiele widerlegen die verbreitete Auffassung, dass sich agrarische Gesellschaften vorwiegend in tradierten Verhaltensformen bewegt hätten. Das Appenzeller Beispiel spricht zudem gegen die These, dass sich republikanische Werthaltungen im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Mitteleuropa einzig in städtischen Kommunen ausgebildet hätten. Insgesamt legt der Vergleich der beiden Räume nahe, dass Gesetze als Instrumente gesellschaftlicher Organisation in Republiken von grösserer Bedeutung waren als in Fürstenstaaten. Nimmt man die Dichte der Gesetzgebung, die Kohärenz der Vorschriften und die Verbindlichkeit der Normen als Kriterien für die Modernität eines Gemeinwesens, so war die Republik Appenzell im 15. und 16. Jahrhundert deutlich fortschrittlicher als das fürstenstaatliche Amt Rettenberg. Ausschlaggebend dafür waren zu einem grossen Teil die rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen und der Wille der politischen Entscheidungsträger, diese auf Dauer zu bewahren.

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