Philanthropisches Selbstverständnis und soziale Interventionen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Eine Untersuchung am Beispiel der Armenerziehungsanstalt Steinhölzli bei Bern.

AutorIn Name
Michelle
Schwarzenbach
Academic writing genre
Master thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Brigitte
Studer
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2010/2011
Abstract
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich, bedingt durch das rasante Bevölkerungswachstum und den Strukturwandel in Landwirtschaft und Industrie, eine neue Form der Armut, die mit den Begriffen „Massenarmut“ und „Pauperismus“ bezeichnet wurde. Die sich entwickelnden modernen Staaten standen diesem Phänomen zuerst machtlos gegenüber. Erst mit der wachsenden Erkenntnis, dass die Ursachen der sozialen Not in den damaligen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen zu suchen waren, wurde die Notwendigkeit einer präventiven Fürsorge erkannt. Neben der staatlichen Armenfürsorge bestand seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts eine private Armenpflege, die in erster Linie auf jenen Gebieten aktiv war, in denen sich der Staat unzureichend betätigte. In der Schweiz wurde die Armenfürsorge vielerorts von philanthropischen Gesellschaften, Vereinen und Institutionen getragen. Philanthropisch gesinnte Akteurinnen und Akteure empfanden es als moralische Pflicht, dem christlichen Gebot der Nächstenliebe nachzuleben und sich der Unterstützung und Erziehung der Armen zu widmen. Die Masterarbeit fokussiert eine konkrete philanthropische Aktivität: die Errichtung von Erziehungsanstalten für arme Kinder. Am Beispiel der Armenerziehungsanstalt für Mädchen im Steinhölzli bei Bern (kurz: Steinhölzliheim), die 1837 vom Verein für christliche Volksbildung gegründet wurde, wird untersucht, wie es um das Selbstverständnis und die sozialen Interventionen philanthropisch tätiger Akteurinnen und Akteure im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestellt war. Die Arbeit zielt darauf ab, die Einstellungen und Handlungsweisen der Anstaltsträgerschaft zu rekonstruieren, einzuordnen und zu deuten. Dabei soll geklärt werden, wie die Trägerschaft die Armut interpretierte, in welchen Bereichen sie demzufolge Handlungsbedarf ortete, welche Massnahmen sie ergriff und wie sich ihre Ziele im Laufe der Zeit veränderten. Der Nachlass des Steinhölzliheims im Staatsarchiv des Kantons Bern bildet die Grundlage für eine qualitative Untersuchung. In einem ersten Teil werden im Sinne einer Kontextualisierung die Themen Armut und Armenfürsorge im 19. Jahrhundert besprochen. Es wird deutlich, dass die Massenarmut hauptsächlich mit den Mitteln der Armenpolitik bekämpft wurde, was eine rege gesetzgeberische Tätigkeit zur Folge hatte. Da die staatliche Armenunterstützung aber oft unzureichend war, bildete das philanthropische Engagement von Privaten eine notwendige Ergänzung derselben. Dieses äusserte sich in der Schweiz unter anderem in der Errichtung von Erziehungsanstalten für arme Kinder, die in ihrer Konzeption bei der Armenerziehungsanstalt nach dem Vorbild von Johann Heinrich Pestalozzi anknüpften. Die Arbeit zeigt, dass im Kanton Bern Ende 1900 insgesamt sechs staatliche, neun vom Staat subventionierte und 15 private Erziehungsanstalten bestanden. Im Hauptkapitel werden das philanthropische Selbstverständnis und die sozialen Interventionen der Armenerziehungsanstalt Steinhölzli von 1837 bis 1920 anhand von sieben verschiedenen Themenbereichen illustriert. Nach der Darstellung der Gründungsgeschichte stehen die Zielvorstellungen der Anstalt im Fokus. Es wird ersichtlich, dass sich die Anstaltsträgerschaft von der Ordensregel des Benedikt von Nursia, „Bete und arbeite“, leiten liess und arme Mädchen durch eine christliche Erziehung dazu befähigen wollte, dereinst ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten zu können. Dabei stützte sich die Trägerschaft auf bürgerliche Moralvorstellungen von ehrenhaftem Verhalten. Durch die Gewöhnung an Tugenden wie Arbeitsamkeit, Reinlichkeit und Sparsamkeit, und durch die Einübung typisch weiblicher Fähigkeiten sollten die Mädchen zu tüchtigen Hausfrauen erzogen werden. Dieses Ergebnis korrespondiert mit den Ausführungen zur Trägerschaft, die zeigen, dass die Mitglieder des leitenden Komitees vornehmlich dem Bürgertum angehörten. Die Mehrheit war protestantisch und ihr Weltbild entsprechend geprägt. Des Weiteren wird deutlich, dass die Erziehung im Steinhölzliheim der von Johann Heinrich Pestalozzi propagierten Menschenbildung mit Kopf (intellektuelle Bildung), Herz (sittlich-religiöse Bildung) und Hand (Erziehung zur Arbeit) entsprach, wobei vor allem die Arbeit und die Religion zentral waren. In Bezug auf die Kommunikation zwischen Staat und Steinhölzliheim stellt sich heraus, dass die gegenseitige Beziehung auf Kooperation beruhte: Die Anstalt erhielt vom Staat Unterstützungsleistungen, im Gegenzug begab sie sich unter dessen Oberaufsicht und unternahm wichtige ergänzende Vorkehrungen zu den staatlichen Massnahmen. Als Schlussfolgerung wird gezeigt, dass die Bestrebungen des Steinhölzliheims von Erfolg gekrönt waren. Die konservativ eingestellte Trägerschaft, die Armut nicht nur als eine Vermögensschwäche auffasste, sondern auch als Folge einer unsittlichen Lebensführung, konnte ihr Hauptziel – Armut durch Arbeit und Erziehung einzudämmen – im Steinhölzliheim verwirklichen.

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