Personenwahrnehmung und Fremdbild Wilhelms von Tyrus, Karrierist im Kreuzfahrerkönigreich Jerusalem

AutorIn Name
Nicole
Staub
Academic writing genre
Licenciate thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Rainer
Schwinges
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2000/2001
Abstract

Wilhelm von Tyrus (ca. 1130–1186) darf zu den bedeutendsten Geschichtsschreibern des hohen Mittelalters gezählt werden. Seine Chronik, die unter dem Titel „Historia de rerum in partibus transmarinis gestarum“ bekannt ist, ist bis heute die Hauptquelle für die Geschichte des Kreuzfahrerkönigreiches Jerusalem im 12. Jahrhundert. Wilhelms Darstellung seiner Umgebung hat die Kreuzzugsforschung massgeblich geprägt und bis heute finden sich seine Urteile oft nahezu wörtlich in der wissenschaftlichen Literatur. Das liegt sicherlich auch daran, dass der Chronist selbst ein einflussreicher Mann war: Erzbischof von Tyrus, Kanzler des Königreiches Jerusalem, Diplomat und Erzieher des leprösen Prinzen Balduin, der als Balduin IV. den Thron von Jerusalem besteigen sollte. Mit viel Ehrgeiz hatte sich Wilhelm seine Karriere aufgebaut, begab sich nach seiner Jugend im ‚multikulturellen‘ Jerusalem an die gerade im Entstehen begriffenen Universitäten des Westens und kehrte nach rund zwanzig Jahren als Gelehrter zurück. Es war schliesslich seine Bildung, die dem nichtadeligen Wilhelm das Wohlwollen seines Königs und die höchsten Ämter seines Vaterlandes einbrachte. Allzu oft wurde in der bisherigen Forschung Wilhelms Werk lediglich als „Quellenfundgrube“ benutzt. Es lieferte neben chronologischen Daten auch Details zu politischen Konstellationen wie etwa jener zwischen der „Hofpartei“ um die machthungrige Königinmutter Agnes von Courtenay auf der einen Seite und der „baronialen Partei“ auf der anderen. Kaum je aber wurde neben den wichtigsten Lebensdaten auf den Chronisten selbst eingegangen, auf seine Karriere und auf seine Haltung zu den beschriebenen Ereignissen. Man bemerkte wohl die zahlreichen Brüche zwischen „realem Hintergrund“ und Wilhelms Darstellung (und warf ihm dafür sogar „Geschichtsfälschung“ vor), nahm aber die Chance nicht wahr, gerade anhand dieser Brüche Wilhelms Personenwahrnehmung herauszuarbeiten.

 

In dieser Arbeit wurde nun die Subjektivität des Werkes in den Vordergrund gestellt. Zentraler Untersuchungsgegenstand waren die teils sehr ausführlichen Personenbeschreibungen von Wilhelms Zeitgenossen. Neben dem äusseren Erscheinungsbild beinhalten diese Fähigkeiten, Charakterzüge sowie Position und Nützlichkeit der jeweiligen Person im politischen Gefüge des Königreiches. Es stellten sich also Fragen wie: Welche Qualitäten und Eigenschaften hebt Wilhelm hervor, was verschweigt er, aber auch: Was bezweckt Wilhelm mit einer von anderen verfügbaren Quellen abweichenden Beschreibung? Vor dem Hintergrund der umfangreichen Forschungen zur so genannten „Renaissance des 12. Jahrhunderts“ und der damit verbundenen „Entdeckung des Individuums“ stellte sich auch die Frage nach Wilhelms Fähigkeit, zwischen Topoi, Typen und individueller Darstellung zu differenzieren. In einem zweiten Schritt schliesslich ging es darum, und daher auch der Titel der Arbeit, die untersuchten Personendarstellungen bezüglich des Selbstbildes Wilhelms zu interpretieren.

 

Anhand seiner Darstellung wichtiger Exponenten des Königreiches wurde es möglich, verschiedene Konzepte des Chronisten aufzuzeigen. So definiert er über die Fehler und Schwächen seines Königs einen „guten König“, setzt aber zugleich den Typus des „schlechten Ratgebers“ ein, um die von ihm geschilderten Unzulänglichkeiten des Herrschers abzuschwächen. Aus Wilhelms Urteilen über die verschiedenen, fähigen und unfähigen Regenten für den leprösen König konnte das Machtkonzept des Chronisten sowie anhand der Darstellung seiner politischen Gegner sein Moralkonzept erarbeitet werden. Im Weiteren wurde seine Haltung gegenüber dem Klerus des Heiligen Landes wie auch seine Beurteilung der oft anmassend auftretenden, aber für Machtausbau und -erhaltung unentbehrlichen Ritterorden untersucht. Deutlich zeigte sich in diesen Untersuchungen immer wieder Wilhelms Fähigkeit, verschiedene Stilmittel gezielt einzusetzen, Schwarz-Weiss-Zeichnungen zu umgehen und sich von Topoi zu lösen. Eine derart differenzierte Personendarstellung war im 12. Jahrhundert wohl nur möglich, wenn das Leben an Kulturgrenzen den Blick geschärft hatte. 

 

Im Spiegel von Wilhelms Personendarstellungen erkennen wir schliesslich ihn selbst. Er ist sich seiner Einzigartigkeit als Universitätsgelehrter, der im Gegensatz zu der Mehrzahl der Mächtigen des Königreiches in Jerusalem geboren ist, bewusst. Mit seiner Bildung und seiner Herkunft macht sich Wilhelm nicht selten selbst zum Mass aller Dinge gegenüber anderen: Der ideale Kleriker und Politiker, gemäss seinen Schilderungen, ist er selbst. Andere geistliche und weltliche Karrieristen (und damit Konkurrenten) stellt er nicht selten als unfähig dar. Es sind nach Wilhelms Darstellung schliesslich auch Leute, die gerade nicht über seine Qualitäten verfügen, welche es zu verantworten haben, wenn das Königreich Jerusalem unter dem Druck Sultan Saladins mehr und mehr von seinem einstigen Glanz verliert, und – es blieb Wilhelm erspart, das zu erleben – schliesslich vernichtend geschlagen wird.

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