Panelbericht: Symbolisches Kapital und museale Repräsentation jüdischer Geschichte. Zur Sammlungsgeschichte eines kulturellen Reichtums mit fragiler gesellschaftlicher Legitimität

Author of the report
Anna-Pierina
Godenzi
Universität Bern
Citation: Godenzi, Anna-Pierina: Panelbericht: Symbolisches Kapital und museale Repräsentation jüdischer Geschichte. Zur Sammlungsgeschichte eines kulturellen Reichtums mit fragiler gesellschaftlicher Legitimität , infoclio.ch Tagungsberichte, 22.08.2019. Online: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0219>, Stand: 14.12.2024

Verantwortung: Erika Hebeisen
Referierende: Sabina Bossert / Naomi Lubrich / Emile Schrijver

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Die Geschichte der Zirkulation von jüdischem Kulturgut in europäischen Museen ist eine Verlustgeschichte: Der Sammlungsbestand von jüdischen Kulturgütern in „allgemeinen“ Museen in Europa ist insgesamt wenig umfangreich. Zeitgenössische historische Museen versuchen zwar zunehmend, die jüdische Kultur und Geschichte in ihren Ausstellungen zu berücksichtigen, doch fehlt es ihnen oftmals an kulturhistorisch relevanten Objekten. Dies ist das Resultat einer systematischen Ignorierung des jüdischen Kulturguts beim Aufbau der Sammlungen. Im Gegensatz dazu haben spezialisierte jüdische Institutionen schon von jeher zur jüdischen Kulturgeschichte gesammelt. Die zwei Panelbeiträge zu jüdischen Museen und einem Archiv beleuchten deren Sammlungsgeschichten aus historischer Perspektive und diskutieren die daraus resultierenden Identitäten und Aufgaben solcher jüdischen „Spezialinstitutionen“.

EMIL SCHRJIVER (Amsterdam) zufolge ist die Auseinandersetzung mit der jüdischen Identität ein zentrales Thema jüdischer Museen. Sollen diese das Judentum in seiner Gesamtheit darstellen, oder das, was das Kurationsteam als solches definiert? Soll der Fokus auf den Holocaust, die religiöse oder die kulturelle Identität gelegt werden? Wer soll sich in einem jüdischen Museum repräsentiert fühlen? Diese Fragen widerspiegeln den komplexen Entscheidungsprozess bei der Konzeptionierung eines jüdischen Museums – und sie resultieren in einer grossen Bandbreite an unterschiedlichen Ausrichtungen. So ist ein jüdisches Museum nicht immer auch zugleich ein Holocaust-Museum, welches primär als Mahnmal und nicht nur der Repräsentation der Gesamtheit der jüdischen Kultur dient. Andere jüdische Museen sind wiederum Bestandteil einer religiösen Institution, deren Sammlung sowohl als Archiv als auch als Grundlage für religiöse Studien dienen kann. Aber nicht nur in der Ausrichtung finden sich grosse Unterschiede, auch die Sammlungsgrundlagen sind äusserst verschieden: Manche Museen verfolgen seit Jahren eine professionelle Sammlungspolitik, während andere Institutionen gar keine eigenen Objekte besitzen. Bei der Grösse und Finanzierung reicht das Spektrum von kleine Museen, welche von Privatpersonen geführt und finanziert werden, bis hin zu staatlich geförderten Grossmuseen. Entsprechend unterschiedlich ist auch das Publikum, welches sich angesprochen fühlt. In seinem Beitrag zeigt Schrijver eindrücklich, dass jüdische Museen unterschiedliche Funktionen haben und sich auch innerhalb eines einzelnen Landes stark unterscheiden können.

NAOMI LUBRICH (Basel) beleuchtet die Geschichte des jüdischen Museums der Schweiz in Basel, das sich als einziges Museum des Landes der jüdischen Geschichte widmet. Gegründet wurde es 1966 unter Einbeziehung einer Objektsammlung des Basler Völkerkundemuseums, die sowohl religiöse Artefakte als auch Alltagsgegenstände umfasste. Basel als Standort war in dreierlei Hinsicht relevant: Erstens gab es hier bereits die erwähnte Sammlung, zweitens wurden hier schon vor Jahrhunderten hebräische Bücher gedruckt und drittens gilt die Stadt als Gründungsort des jüdischen Staates (durch Theodor Herzl auf dem Ersten Zionistenkongress 1897). Ende der 1980er Jahre veränderte sich die Ausrichtung des Museums: Die Aufarbeitung des Holocausts wurde vermehrt auch von anderen neu eröffneten Museen in Europa übernommen und ebenso in Film, Literatur und Wissenschaft thematisiert, sodass sich die Ausstellungsthemen diversifizierten. Seit 2012 liegt der Fokus des Museums eindeutig auf der schweizerischen jüdischen Geschichte, wobei einer seiner Aufgabenbereiche auch die Dokumentation der zeitgenössischen schweizerischen jüdischen Gemeinschaft ist. Im Unterschied zu Museen im Ausland ist in der Schweiz keine öffentliche Institution verantwortlich für das jüdische Museum. Es wird fast ausschliesslich durch private Gelder finanziert.

SABINA BOSSERT (Zürich) stellt zum Abschluss des Panels die „Stiftung jüdische Zeitgeschichte“ als Teil des Archivs für Zeitgeschichte der ETH Zürich vor, die sich seit 1995 der Dokumentation und Archivierung jüdischer Zeitgeschichte widmet. Das Archiv sammelt Schriften, Fotografien, audiovisuelle Medien (Video/Film/Ton) und Objekte. Es ist die zentrale Archivstelle für die Sicherung von privaten Nachlässen und institutionellen Überlieferungen jüdischen Lebens in der Schweiz und daher wichtiger Kooperationspartner von Museen und anderen Institutionen.

Die anhaltende Neubewertung jüdischer Kulturgüter und ihre Präsentation in verschiedenen Kontexten und Funktionen erfordert von jeder „jüdischen“ Institution eine Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. In der Diskussion der Panelbeiträge wurde deutlich, dass sich diese Identität je nach gesellschaftlichem Kontext und Zeitgeist ändern kann und mit ihr auch die Funktionen der jeweiligen Institution. Die grosse Bandbreite an Ausrichtungen der verschiedenen jüdischen Museen spiegelt in dieser Hinsicht die bewegte Geschichte wider und ist ein Ausdruck des Reichtums der jüdischen Kulturgüter, nicht nur im materiellen, sondern auch im symbolischen Sinn.

 

Panelübersicht:

Bossert, Sabina: Jewish museums and Jewish identities

Lubrich, Naomi: Bilder, Töne und Objekte zum Schweizer Judentum im Archiv für Zeitgeschichte

Schrijver, Emile: Pioneer to Peer: The Jewish Museum of Switzerland



Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 5. Schweizerischen Geschichtstagen

Event
5. Schweizerische Geschichtstage
Organised by
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte und Universität Zürich
Event date
Place
Zürich
Report type
Conference