Referierende: Martin Lengwiler / Beat Gnädinger / Michael Gasser
Kommentar: Alix Heiniger
Digitalisierte Quellen sind heute aus der Geschichtswissenschaft nicht mehr wegzudenken und beeinflussen durch ihre Verfügbarkeit im Internet und durch die vorhandenen Metadaten zumindest teilweise, worüber geforscht wird und worüber nicht. Bei der Digitalisierung und Anreicherung von Quellen finden sich Archive in einer Spannungssituation zwischen Angebot und Nachfrage wieder, da die Fülle an zu digitalisierenden Dokumenten ihre finanziellen und zeitlichen Ressourcen in den meisten Fällen hoffnungslos übersteigt. Deshalb stellen sich den Archiven Fragen nach der Selektion von zu digitalisierenden Quellen und nach dem Anreiz, den die Dokumente auf die Forschung ausüben. Umgekehrt haben auch Forschende gewisse Ansprüche an die zur Verfügung gestellten Daten und deren Anreicherung mit Metadaten, wie zum Beispiel Schnittstellen zu weiteren Datenbanken oder Volltext-Angaben. Daraus ergibt sich ein Spannungsfeld zwischen Archiven und Forschenden, das in diesem Panel anhand von je zwei Vertretern bzw. einer Vertreterin aus Wissenschaft und Archiv dargestellt wurde.
In seinem Beitrag mit dem Titel „Digital History – Umgangspraktiken mit Archivdaten,“ ging MARTIN LENGWILER (Basel) genauer auf die für ihn interessanten methodischen Zugänge der Digital History ein. Mit besonderem Vermerk darauf, dass die Methodik nicht neu ist, sondern durch die Fortschritte in der Datenverarbeitung nun lediglich unter neuem Namen erscheint, illustrierte er verschiedene Zugänge anhand von Forschungsprojekten am eigenen Lehrstuhl. Er berichtete zum Beispiel von einer historischen Netzwerkanalyse der deutschsprachigen Alpenschutzbewegung, in der durch Einsatz von Computern Personennetzwerke aus Quellen extrahiert werden konnten. Aus seinen eigenen Erfahrungen plädierte Lengwiler für sogenannte blended approaches, die Methoden der Computertechnik und traditionelle Hermeneutik miteinander verbinden, und konstatierte, dass die Möglichkeiten der Digital History noch lange nicht geklärt oder genug erforscht sind. Deshalb sieht er in der verstärkten Kooperation zwischen Archiven und Forschungsinstitutionen eine zentrale Prämisse für den Fortschritt der Digital Humanities. Zudem sollten sich Archive verstärkt auch inhaltlich an der Forschung orientieren und nicht wie bis anhin nur formell. Letztlich könnten auch Forschende vom Wissen der Archivarinnen und Archivare profitieren, was einen intensiveren Austausch noch fruchtbarer machen würde.
BEAT GNÄDINGER (Zürich), Leiter des Staatsarchivs Zürich (StAZH), bezog sich in seinem Beitrag auf die Schwierigkeiten, die ein Archiv bei der Digitalisierung von Dokumenten hauptsächlich zu bewältigen hat. Aufgrund von hohen Digitalisierungskosten, der grossen Anzahl unterschiedlich organisierter Archive und der unglaublichen Masse analoger Dokumente sei es kaum möglich, eine für alle Forschenden befriedigende Situation des Online-Angebots herzustellen. Aufgrund der Fülle und inhaltlichen Diversität der Dokumente musste das StAZH 2007 entscheiden, dass nur die sogenannten „zentralen Serien“, wie z.B. Regierungsratsbeschlüsse, Kantonsratsbeschlüsse oder Amtsblätter beginnend im Jahre 1803, digitalisiert werden können. In diesen Serien sehen die Archivarinnen und Archivare den grössten hermeneutischen Gehalt und legten sich deshalb auf diese fest. Gemäss Gnädinger ist es jedoch keinesfalls einfach zu entscheiden, welche Bestände digitalisiert werden und welche nicht. Durch eine nicht zu umgehende Willkür bei der Auswahl würden gewisse Forschungsfragen ermöglicht, andere jedoch auch verhindert. Dennoch sei es ja freilich so, dass die Dokumente in analoger Form weiterhin greifbar sind, selbst wenn sie nicht online verfügbar oder auffindbar sind. Wichtig sei also nach wie vor, das Archiv auch effektiv zu besuchen und mit den analogen Quellen zu arbeiten.
Unter dem Titel „Vom Digitalisat zum digitalen Service. Angebote und Potential der Sammlungen und Archive der ETH-Bibliothek“ präsentierte der Archiv-Leiter der ETH-Bibliothek, MICHAEL GASSER (Zürich), das Angebot und die weiteren Vorhaben des Archivs bezüglich seiner Digitalisate. Gassers Ziel ist es, die Digitalisate so frei zugänglich, so gut in Suchportale eingebunden und so divers wie möglich zu präsentieren. Mit einer Veranschaulichung verschiedener Strategien zur Anreicherung von Daten, sogenannten Metadaten, zeigte Gasser, dass die Aufgaben eines Archivs durch die Digitalisierung sehr stark zunehmen und dass eine konkrete Strategie während der Anreicherung unerlässlich ist. Eine solche Strategie befinde sich jedoch wiederum im Spannungsverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage und es müssten konkrete Entscheidungen seitens der Archive getroffen werden. Die ETH-Archive verfolgen hierbei die Strategie einer digitalen Bibliothek mit einer Open Data Policy, worin alle Digitalisate der Öffentlichkeit frei zugänglich sind. Da dies jedoch ein sehr langfristiger Prozess ist, wird kurz- und mittelfristig ausschlaggebend sein, was sich die Forschenden zukünftig von den digitalen Services wünschen und inwiefern die Archive mit ihren finanziellen Mitteln diesen Wünschen entsprechen können.
Spezifische Vorbehalte und Kritikpunkte an der Dynamik zwischen Forschung und Archivangebot in Zeiten der Digital History präsentierte ALIX HEINIGER (Lausanne) in ihrem Kommentar. Zwar sei es gut, dass man Digitalisate und computertechnische Methoden in die Geschichtswissenschaften miteinbezieht, doch gäbe es auch einen gewissen Grad an Willkür und vor allem qualitative Probleme bei der rechengestützten Analyse historischer Quellen. So können Computer zwar beispielsweise über die Anzahl und die Häufigkeit sozialer Beziehungen Auskunft geben, jedoch nicht über deren Natur. Zudem bestehe durch die zunehmende Digitalisierung von Quellen die Gefahr, dass die analogen Archivalien in den Archiven vergessen gingen und die Forschung sich nur noch auf Digitalisate stütze. Zudem wies Heiniger darauf hin, dass durch unterschiedliche Vorgänge bei der Verlinkung von Quellen auch die Gefahr besteht, dass mangels aktiver Verlinkung in Suchportalen die Quellen vom Radar der Forschenden verschwinden können. Solchen Aspekten müsse die methodische und theoretische Arbeit zu den Digital Humanities unbedingt Rechnung tragen.
In der abschliessenden Diskussion wurde von verschiedenen Seiten klargestellt, dass es noch sehr lange gehen wird – oder womöglich niemals so weit sein wird –, bis sämtliche Dokumente digitalisiert und übers Internet auffindbar sind. Deshalb sei die Angst um eine Vernachlässigung des Analogen heute noch nicht gerechtfertigt. Der Dialog zwischen den verschiedenen Interessengruppen müsse gezielt verstärkt werden, damit die neue Praxis angereicherter Daten auch in gelenkte Bahnen geleitet wird. Das wichtigste hierbei ist deshalb, dass man sich jetzt, in der Anfangsphase der Digitalisierung, bereits über deren Wichtigkeit bewusst ist und ihr mit einer klaren Strategie begegnen kann. Letztlich hat dieses höchst interessante Panel schön gezeigt, dass die digitale Anreicherung von Daten die Historikerinnen und Historiker noch lange und sehr intensiv beschäftigen wird.
Panelübersicht:
Lengwiler, Martin: Digital History – Umgangspraktiken mit Archivdaten
Gnädinger, Beat: 39 Kilometer Geschichte nutzbar machen
Gasser, Michael: Vom Digitalisat zum digitalen Service. Angebote und Potential der Sammlungen und Archive der ETH-Bibliothek
Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 5. Schweizerischen Geschichtstagen