Sichtbare und unsichtbare Grenzen entlang des Rheins in der Spätantike und im Frühmittelalter

Author of the report
Basil
Gallati
Universität Zürich
Ana-Maria
Jürgens
Universität Zürich
Citation: Gallati, Basil; Jürgens, Ana-Maria: Sichtbare und unsichtbare Grenzen entlang des Rheins in der Spätantike und im Frühmittelalter, infoclio.ch Tagungsberichte, 12.08.2025. Online: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0341>, Stand: 20.08.2025

Verantwortung: Nikolas Hächler / Sabrina Vogt

Referierende: Marco Franzoni / Nikolas Hächler / Sonsoles Costero-Quiroga

 

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SABRINA VOGT (Zürich) eröffnete das Panel mit einer herzlichen Begrüssung der Referierenden, wo­bei sie die unterschiedlichen Hintergründe und Herangehensweisen der Forschenden an das Thema vorstellte. Die (un-)sichtbaren Grenzen wurden als Reichsgrenzen, intellectual borders, geografische, kulturelle und wirtschaftliche Grenzen konzeptualisiert. Dies führte zu einer grossen Vielfalt an The­menfeldern, die sich gegenseitig ergänzten. Die drei Forschenden riefen dazu auf, bis anhin mono­lithisch betrachtete Grenzräume zu dekonstruieren und neu zusammenzusetzen, um unsere Per­spektiven auf die Vergangenheit zu erweitern.

Um die inneren und äusseren Grenzen des karolingischen Frankenreiches zu verstehen, müssen MARCO FRANZONI (Tübingen) zufolge die diplomatischen und militärischen Beziehungen der fränki­schen Herrscher zu ihren Nachbarn in den Fokus gerückt werden. Für die fränkischen Expansions­bestrebungen auf dem Gebiet der heutigen Schweiz bedeute dies, das Verhältnis zwischen den ale­mannischen Herzögen und Grafen auf der einen und den fränkischen Hausmeiern auf der anderen Seite eingehend zu betrachten. Als 741 der Hausmeier Karl Martell verstarb, vererbte er seinem Sohn Pippin Neustrien, Burgund und die Provence, während Karlmann Austrasien, Alemannien und Bur­gund erhielt. In den unsicheren Jahren nach dem Tod Karl Martells witterten viele Aristokraten im fränkischen Reich die Möglichkeit, sich eigenständig zu machen und stellten sich gegen die neuen Hausmeier. So wagten etwa die alemannischen Grafen mehrfach die direkte militärische Konfronta­tion mit dem Brüderpaar. Als es Karlmann und Pippin 746 bei Cannstatt gelang, den alemannischen Widerstand zu brechen, sei dies laut Franzoni in den Quellen als «längst überfällige Korrektur» des fränkischen Einflussgebietes und der inneren Grenzen begrüsst worden. Ein zentrales Anliegen der Hausmeier sei hierbei die Sicherung der Alpenpässe durch Klöster und Festungen gewesen, um die Knotenpunkte des frühmittelalterlichen Strassennetzwerks zu kontrollieren. Weiter sei die (Re-)In­tegration besiegter Feinde ins Reich eine beliebte Strategie der Frankenherrscher gewesen, um den inneren Frieden zu wahren – zumal ein Regieren ohne die Unterstützung der jeweiligen Aristokraten kaum denkbar war. Als sich Karlmann nach 746 aus unbestimmten Gründen ins Kloster zurückzog, wurde Pippin zum Alleinherrscher. Dies veranlasste Franzoni neben zahlreichen weiteren ereignis­geschichtlichen Beobachtungen zu der Vermutung, dass die alten spirituellen Machtzentren in Neustrien für die internen Machtkämpfe der Karolinger und somit auch für die Grenzziehung des Reiches ausschlaggebend gewesen seien.

NIKOLAS HÄCHLER (Zürich) setzte sich zum Ziel, die geografischen, kulturellen, wirtschaftlichen und militärischen Grenzen zwischen der römischen und der alemannischen Bevölkerung im Rheingebiet kritisch zu beleuchten. Der Referent zeigte anhand der Entwicklung der Römerstadt Augusta Raurica gegen Ende des dritten und im Verlauf des vierten Jahrhunderts auf, dass eine rein militärische In­terpretation des am Rhein entlanglaufenden «nassen Limes» unzureichend sei, um das Zusammen­leben der beiden Kulturen zu erfassen. Zugegebenermassen habe das alte Stadtzentrum von Augusta Raurica aufgrund der Germanenüberfälle an Bedeutung verloren, während das sichere Kastell an strategischem Gewicht gewonnen habe. Daraus dürfe gemäss Hächler jedoch nicht gefolgert wer­den, dass sich lediglich die kriegerischen Kontakte der Nachbarn intensiviert hätten. Das Netzwerk aus Befestigungen im Rheingebiet erfülle weit mehr als rein militärische Funktionen, zumal die Grenzwehranlagen vorwiegend der wirtschaftlichen und personellen Kontrolle gedient hätten. Grenzstädte seien kulturelle «Schmelztiegel» gewesen, wobei der «nasse Limes» eine (un-)sicht­bare Kulturgrenze markiert habe, die immer aufs Neue mithilfe von Verträgen verhandelt werden musste. Häufig sei es den römischen Herrschenden gelungen, die Grenzkonflikte auf diplomati­schem Weg beizulegen und alemannische Krieger als Verbündete für ihre Streitkräfte zu gewinnen. Beeindruckt von der römischen Disziplin, Infrastruktur und der religiösen Offenheit – man denke an die Interpretatio Romana – sei es keine Seltenheit gewesen, dass sich alemannischen Verbände «ro­manisieren» liessen. Insbesondere der Cäsar Julian Apostata habe es verstanden, die alemanni­schen Verbün­deten sinnvoll einzusetzen, indem er sie zusammen mit römischen Soldaten Kornspei­cher und Grenzwehranlagen wiederaufbauen liess, die zuvor bei Überfällen zerstört worden waren. Alte Vor­urteile, Identitäten und kulturelle Grenzen seien durch derartige Aktionen infrage gestellt worden, wodurch neue Einstellungen entstehen konnten. Wenn auch oft nur zeitweise, seien so aus ehema­ligen Feinden Verbündete geworden.

Eine Hegemonie des Wissens, erklärte SONSOLES COSTERO-QUIROGA (Madrid) einführend, sei nur durch Austausch von Ideen möglich. Ziel ihres Vortrags sei es, auf eine unsichtbare Form der Gren­zen, nämlich die intellectual borders, einzugehen. Dabei beabsichtige sie, die Bedeutung des Begriffs am Beispiel des spätantiken Philosophen Damaskios auszulegen. Zunächst gelte es aber zu klären, wo und wie ein Austausch von Ideen zustande käme: hauptsächlich in kleinen Gemeinschaften, Schulen oder am kaiserlichen Hof. Die entstandenen Ideen seien anschliessend durch Handel und Reisen über Reichsgrenzen hinweg, die im Grunde genommen auch nur ein Konstrukt darstellten, verbreitet worden. Dies legte Costero-Quiroga am Beispiel der Philosophenschulen in Athen und Ale­xandria dar, die im fünften und sechsten Jahrhundert wichtige Orte des intellektuellen Austausches gewesen sind. Aus dem gesamten Mittelmeerraum reisten Zuhörerinnen und Zuhörer an, um den oftmals paganen Philosophierenden zuzuhören. Deren Ideen und Gedanken seien anschliessend von dem mannigfaltigen Publikum verbreitet worden. Anhand der Chronik des Johannes Malalas zeigte die Referentin auf, dass diese intellektuelle Offenheit nicht ewig anhielt. Die Chronik belegt, dass der christliche Kaiser Ostroms im Jahr 529 die Verbreitung philosophischer Lehren verbot, was zur Schliessung zahlreicher Philosophieschulen führte, darunter auch die neuplatonische Schule in Athen. Die Referentin zitierte dann den Dichter Agathias Scholastikos, wonach Damaskios an den Hof des persischen Grosskönigs Chosrau I. geflohen sei und weitere einflussreiche Intellektuelle an­getroffen habe. Der persische Grosskönig habe ein ausgeprägtes Interesse an der Philosophie ge­zeigt und die Übersetzungen zahlreicher Schriften finanziert. Es lasse sich demnach festhalten, fasste Costero-Quiroga zusammen, dass die intellectual borders den Austausch von Ideen gleichzei­tig fördern und hemmen konnten.

Eine abschliessende Frage richtete sich an Franzoni. So wurde zur Diskussion gestellt, ob Pip­pin durch sein Eingreifen in Karlmanns Reichsteil beim Kampf gegen die alemannischen Grafen den ter­ritorialen Anspruch und die Macht seines Bruders infrage gestellt habe. Franzoni entgegnete, dass Karlmann und Pippin zusammengearbeitet hätten, um ihr Herrschaftsgebiet und die Grenzen zu si­chern. Demnach habe Karlmann, als er den Grossteil der alemannischen Oberschicht hinrichten liess, dies auch im Namen seines Bruders getan.

Resümierend lässt sich sagen, dass es den Referierenden gelungen ist, die vielen Facetten von Grenzräumen aufzuzeigen. Die (un-)sichtbaren Grenzen entpuppten sich als dynamische gedankli­che Konstruktionen, die sich auf unterschiedlichste Weise manifestierten und aufgrund politischer Interessen immer wieder verschoben wurden. So waren die Grenzen «kulturelle Schmelztiegel», die das Infragestellen von Vorurteilen förderten, Denkverbote, die sich auf den Austausch von Ideen aus­wirkten und nicht zuletzt Konzeptionen, die die Ausdehnung und Identität eines Reiches bestimmten.

 

Panelübersicht

Marco Franzoni: In Search of the (In-)visible Borders: Merovingian and Carolingian Frontier Zones in the Region of Present-day Switzerland

Nikolas Hächler: Sichtbare und unsichtbare Grenzen bei Kaiseraugst: Transformationen eines Grenzgebiets am Rhein in der Spätantike im Spiegel der literarischen und dokumentarischen Überlieferung

Sonsoles Costero-Quisteroga: Overcoming Intellectual Borders. The Examples of Damascius and Khorsow I

 

Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 7. Schweizerischen Geschichtstagen.
Event
Siebte Schweizerische Geschichtstage
Organised by
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte
Event date
-
Place
Luzern
Language
German
Report type
Conference