Verantwortung: Tamara Cubito / Stig Förster
Referierende: Andri Schläpfer / Mario Podzorski
Kommentar: Stig Förster
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Militärgeschichte sei aktuell in den Medien omnipräsent, so TAMARA CUBITO (Zürich) in ihrer Einführung des Panels. Auch sei die Literatur in diesem Bereich – zumindest teilweise – breit gefächert. Dennoch liesse sich erkennen, dass die Schweizer Militärgeschichte in den letzten Jahren innerhalb der historischen Forschung an den Rand gedrängt worden sei. Auch an den Universitäten seien Lehrveranstaltungen im militärhistorischen Bereich eine Seltenheit geworden. Dieser Lücke nahm sich das Panel in zwei Teilen an: Zum einen wurden Unsichtbarkeiten innerhalb der Schweizer Militärgeschichte am Beispiel des Sonderbundskrieges und des Ersten Weltkrieges untersucht, zum anderen befasste es sich mit der mangelnden Sichtbarkeit der Militärgeschichte an Schweizer Universitäten.
Da der Sonderbundskrieg von 1847 ein wegweisendes Ereignis im Hinblick auf die Bundesstaatsgründung war, könne man davon ausgehen, dass die Geschichtswissenschaften selbst die kleinste Facette davon bereits ausgiebig erforscht hätten, so ANDRI SCHLÄPFER (Zürich) in seinem Referat. Doch trotz zahlreicher Publikationen zu dem Thema seien überraschenderweise einige Teilaspekte dieser kriegerischen Auseinandersetzung bis anhin weitestgehend unsichtbar geblieben. Schläpfer schlug daher neue Stossrichtungen zur Betrachtung dieses Konflikts vor, um die bestehenden Unsichtbarkeiten sichtbar zu machen. Gemäss dem Referenten könne es für die historische Forschung beispielsweise gewinnbringend sein, sich mit der militärischen Sozialisierung und den Gewaltkulturen innerhalb der Truppen zu befassen, um neue Einblicke in den Sonderbundskrieg zu erhalten. Gemäss Schläpfer sei zum Beispiel die Organisation innerhalb der Truppen eher chaotisch gewesen. Zudem hätten die Militärangehörigen lediglich eine sehr rudimentäre militärische Ausbildung erhalten, was laut dem Referenten dazu führte, dass in Gisikon das falsche Schliesspulver verwendet wurde.
Als weitere Stossrichtung nannte Schläpfer die Betrachtung des Sonderbundskrieges als transnationales Phänomen. Beispielsweise seien sowohl in den Reihen der Tagsatzung als auch des Sonderbundes diverse Truppenangehörige in ausländischen Diensten tätig gewesen. Zudem seien auch einige Waffenlieferungen über internationale Wege zu den Truppen gelangt. Durch die Betrachtung dieser Verstrickungen des Sonderbundskrieges eröffne sich die Möglichkeit, diesen auch in den grösseren internationalen Kontext einzuordnen.
Die Betrachtung des Sonderbundskrieges aus der Perspektive der Erinnerungs- oder Mentalitätsgeschichte könne gemäss Schläpfer ebenfalls signifikante Einblicke in bisher unbekannte Aspekte dieser kriegerischen Auseinandersetzung generieren. Im Hinblick auf die Erinnerungskultur, so der Referent, habe der Sonderbundskrieg nur wenige Spuren hinterlassen. Denkmäler seien rar und würden sich meist auf Gedenkstätten für die Gefallenen aus spezifischen Kantonen beschränken. Dies stehe in einem starken Kontrast zu den von den Kämpfenden aufseiten der Tagsatzung festgehaltenen Erinnerungen an den Sonderbundskrieg, die den Krieg mehrheitlich positiv bewertet hatten. Als letzte Perspektive nannte Schläpfer schliesslich die Auseinandersetzung mit dem Sonderbundskrieg unter dem Aspekt der materiellen Kultur. Diese könne als Schlüsselzugang für das Verständnis von Krieg als Massenphänomen dienen. Der Sonderbundskrieg habe zahlreiche materielle Hinterlassenschaften produziert, darunter etwa Kriegssensen.
MARIO PODZORSKI (Zürich) präsentierte in seinem Referat die wichtigsten Erkenntnisse seiner Dissertation «Und das nennt sich Grenzbesetzung!» Erfahrungen von Deutschschweizer Offizieren während des Aktivdiensts im Ersten Weltkrieg. Die Erfahrungen der Deutschschweizer Offiziere an den Landesgrenzen während ihres Aktivdienstes ab 1914 seien bislang in der historischen Forschung mehrheitlich unsichtbar geblieben, so der Referent. Dies sei primär auf drei Gründe zurückzuführen: erstens sei die Militärgeschichte in der Schweiz eine Nische, zweitens sei der Erste Weltkrieg in den Geschichtswissenschaften in den Schatten des Zweiten Weltkriegs gerückt und drittens sei der Bereich der Erfahrungsgeschichte in der Schweiz grundsätzlich wenig rezipiert. Laut Podzorski würden aber in den Archiven und den Notizen der Offiziere viele neue Erkenntnisse schlummern, welche es nun gelte, auszuwerten.
Zu Beginn des Ersten Weltkrieges habe es unter den Schweizer Offizieren im Hinblick auf ihren Aktivdienst grosse Kriegsbegeisterung gegeben. In Bezug auf die damals herrschende Offizierskultur hätten sich jedoch durchaus auch kritische Stimmen erhoben. Der Aktivdienst sei daher von vielen Offizieren als lang ersehnte Bewährungsprobe betrachtet worden, was als möglicher Grund für die anfängliche Begeisterung gesehen werden könne. Doch als keine direkten Angriffe auf die Schweiz erfolgten, sei die Bewährungsprobe ausgeblieben und die Kriegsbegeisterung allmählich in Langeweile umgeschlagen. Dies vermittelte der Referent auf anschauliche Art und Weise anhand einiger Auszüge aus Offiziersbriefen. Podzorski folgerte daraus, dass sich die beschriebene Kriegserfahrung deutlich von der Kriegserfahrung derjenigen Armeeangehörigen unterscheide, welche unmittelbar an den Kampfhandlungen beteiligt gewesen seien. Diese unterschiedlichen Blickwinkel auf den Ersten Weltkrieg unterlegte Podzorski anhand einer Fotografie, auf der Angehörige der Schweizer Armee auf dem Stilfserjoch zu sehen waren, welche aus Langeweile die Kampfhandlungen an den gegenüberliegenden Berghängen beobachteten.
Der Referent folgerte anhand der Archivalien, dass die Offiziere die Schweiz eher durch die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges bedroht sahen als durch direkte Angriffe. Zudem sei es allmählich auch zu einer Verlagerung des Feindbildes gekommen, da die Schweizer Armee selbst in mehrere Skandale verwickelt gewesen sei. Durch den Ordnungsdienst während des Landesstreiks bot sich den Offizieren schliesslich erneut die Möglichkeit einer Bewährungsprobe.
Militärgeschichte sei in der Schweiz nicht unsichtbar, zumindest nicht in der Medienlandschaft, so STIG FÖRSTER (Bern) in seinem abschliessenden Kommentar. Militärhistorische Lehrveranstaltungen oder einen Lehrstuhl für Militärgeschichte suche man in der Schweiz allerdings vergebens. Damit sei die Schweiz jedoch kein Einzelfall, denn auch in anderen europäischen Ländern friste die Militärgeschichte auf universitärer Ebene ein Nischendasein. Es stelle sich die Frage, weshalb sich die Institutionen nicht mit militärhistorischen Aspekten befassen, da beispielsweise die Rolle von Napoleon in der Schweiz nicht unbedeutend sei. Förster verortete das Problem bei den Geschichtswissenschaften selbst, da es als «unschön» gelte, sich mit bestimmten, als unangenehm empfundenen Aspekten der Geschichte zu befassen. Diese Haltung bedürfe allerdings einer kritischen Hinterfragung, da der aufklärerische Anspruch der Geschichtswissenschaften verloren gehe, wenn solch fundamentale Themenfelder übergangen würden.
Die abschliessende Diskussion des Panels stand ganz im Zeichen der Frage, weshalb Militärgeschichte an den Universitäten weitgehend unsichtbar erscheint. Zudem wurde verhandelt, was der Begriff der «Militärgeschichte» umfasst: Förster zufolge habe sich die Subdisziplin traditionell vor allem mit Aspekten wie Schlachten oder Uniformen befasst. Abschliessend betonte er, der Erste Weltkrieg sei nicht zu greifen, ohne wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte einzubeziehen. Militärgeschichte, so Förster, sei im Grunde Teil der Alltagsgeschichte – umso wesentlicher sei es, ihre bestehenden Unsichtbarkeiten zu offenbaren.
Panelübersicht:
Andri Schläpfer: Der Sonderbundkrieg als «unsichtbarer» Krieg in der Schweizer Historiografie
Mario Podzorski: (Un-)sichtbarer Aktivdienst: Deutschschweizer Offiziere im Ersten Weltkrieg
Stig Förster: Kommentar
Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 7. Schweizerischen Geschichtstagen.