„Die kleinasiatische Katastrophe von 1922”. Der Zusammenbruch des multiethnischen Osmanischen Reiches. Ursachen, Verlauf und Folgen ethnischer Spannungen

AutorIn Name
Oliver
Lüthi
Academic writing genre
Licenciate thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Marina
Cattaruzza
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2002/2003
Abstract

Parallel zum Krieg zwischen der griechischen Armee und bewaffneten türkischen Verbänden wütete seit 1919 ein Bürgerkrieg zwischen der griechischen und muslimischen Gemeinschaft des Osmanischen Reiches. Aus den von den griechischen respektive türkischen Truppen kontrollierten Gebieten wurden zu Hunderttausenden Angehörige der jeweils anderen Religion oder Ethnie vertrieben. Mit dem militärischen Sieg der türkischen Verbände unter Mustafa Kemal setzte ab dem Spätsommer 1922 ein wahrer Exodus von griechischen Flüchtlingen aus Kleinasien in Richtung der griechisch kontrollierten Inseln in der Ägäis und des griechischen Festlandes ein. Um den Flüchtlingsstrom in geregelte Bahnen zu lenken, unternahmen die Konfliktparteien ab Oktober 1922 den Versuch, einen gegenseitigen Austausch der jeweiligen Minderheitenbevölkerungen auszuhandeln. Dieser führte im Januar 1923 auf der Friedenskonferenz von Lausanne zum Abschluss eines Abkommens, welches die orthodoxe Bevölkerung des Osmanischen Reiches respektive die muslimische Bevölkerung Griechenlands verpflichtete, ihren jeweiligen Aufenthaltsstaat zu verlassen. Es handelte sich dabei um den ersten Bevölkerungsaustausch der Geschichte, in dessen Rahmen die betroffenen Bevölkerungsgruppen gezwungen waren, ihren jeweiligen Aufenthaltsstaat zu verlassen.

 

Inhaltlich fokussiert die Lizentiatsarbeit auf die folgenden Fragestellungen:

1. Welche ideengeschichtlichen Hintergründe hatten die zunehmenden ethnischen Spannungen zwischen der griechischen und muslimischen Gemeinschaft im griechisch-türkischen Krieg? Welche Bedeutung kam dabei bestimmten Akteuren zu?

2. Welche kurzfristigen Ereignisse trugen zu deren Verschärfung bei? Welcher Art waren diese Ereignisse?

3. Welche Bedeutung kam den politischen Akteuren auf der Pariser Friedenskonferenz zu? Welche Rolle spielten dabei persönliche Neigungen und Sympathien?

4. Stellte der Vertrag von Sèvres ein wirksames Mittel zur Entschärfung der ethnischen Spannungen zwischen der griechischen und muslimischen Gemeinschaft dar?

5. Wer stand hinter den ethnischen Verfolgungen im griechisch-türkischen Krieg? Handelte es sich dabei um staatliche oder nichtstaatliche Akteure?

6. Fielen die Verfolgungen in bestimmten Gebieten heftiger aus als in anderen?

7. Stellte das griechisch-türkische Abkommen zum Bevölkerungsaustausch den einzigen gangbaren Weg dar? Wurde damit eine neue Dimension erreicht, zwischenethnischen Konflikten zu begegnen?

 

Die ethnischen Spannungen zwischen der griechischen und muslimischen Gemeinschaft des Osmanischen Reiches verschärften sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert vor dem Hintergrund dominierender und sich gegenseitig ausschliessender ideologischer Strömungen. Die Balkankriege und der Erste Weltkrieg führten zu einer kurzfristigen und entscheidenden Verschlechterung der Beziehungen zwischen den betroffenen Gemeinschaften. Der griechisch-türkische Krieg entlud die ethnischen Spannungen und führte zur Vertreibung Hunderttausender aus den von den griechischen respektive türkischen Militärverbänden kontrollierten Gebieten. Die untersuchten Quellen aus dem Archiv des Völkerbundes in Genf und Beschreibungen der Ereignisse in Smyrna nach der Rückeroberung der Stadt durch die Türken vermitteln alle das Bild eines tiefen und unüberbrückbaren ethnischen Hasses, eines brodelnden Pulverfasses, das durch den Ausbruch des griechisch-türkischen Krieges entzündet wurde. Die untersuchten Quellen lassen die Behauptung zu, dass das Osmanische Reich letztlich nicht so sehr unter äusserem Druck, sondern aufgrund seiner inneren Spannungen zusammenbrach.

 

Die militärischen Ereignisse des Jahres 1922 führten zur kleinasiatischen Katastrophe und zum Exodus der griechischen Bevölkerung aus dem Osmanischen Reich. Die alliierten Politiker auf der Pariser Friedenskonferenz hatten diese Katastrophe mit ihrer Erlaubnis zur Landung der griechischen Armee in Smyrna entscheidend mitbegünstigt. Unklare und inkonsistente Politiken, Missdeutungen der politischen und militärischen Lage in Kleinasien, von Vorurteilen und Wünschen geprägte Vorstellungen führten zur Unterstützung des wahnwitzigen griechischen Expansionsunternehmens. Die kleinasiatische Katastrophe war letztlich von Menschen gemacht, durch unverantwortliches Jonglieren mit dem Schicksal Hunderttausender von Menschen für äusserst fragwürdige und niemals klar umrissene Ziele.

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