Männlichkeit, Geselligkeit und Widersetzlichkeit. Gewaltdelinquenz in der Stadt der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Beispiel Basel

AutorIn Name
Silvio
Raciti
Academic writing genre
Licenciate thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Joachim
Eibach
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2005/2006
Abstract

Die Lizentiatsarbeit befasste sich mit dem Deliktfeld der interpersonalen, physischen Gewalt in Basel im 19. Jahrhundert. Im Rahmen einer kriminalitätsgeschichtlichen, städtischen Fallstudie wurde die kulturelle Praxis der Gewalt in alltäglichen Situationen analysiert.

 

Die angelsächsische, quantitativ orientierte Forschung zu diesem Thema geht bis heute – in Anlehnung an Elias’ Zivilisationsprozess – von einem ständigen Rückgang der Gewalt in sozialen Beziehungen vom Mittelalter bis zur Neuzeit aus. Ebenso zeichnet die Literatur zur bürgerlichen Gesellschaft – insbesondere im rechtsgeschichtlichen Bereich – das Bild einer voranschreitenden Verrechtlichung und zunehmender Rechtsgleichheit. Die kriminalitätsgeschichtlichen Forschungen zur Gewalt in der Frühen Neuzeit förderten ein etwas differenzierteres Bild der gewaltsamen Konfliktaustragung in vormoderner Zeit zu Tage. Gewalt war zwar ein sozial wie räumlich ubiquitäres Phänomen, wurde jedoch durch Ritualisierung stark eingehegt. Sie war Teil einer Konflikt- und Streitkultur, in welcher Ehre eine herausragende Rolle spielte. Neuere rechtsgeschichtliche Arbeiten relativieren zudem die Verrechtlichungsprozesse in der frühen bürgerlichen Gesellschaft.

 

Gewalt als Instrument der Konfliktregulierung, Ehre und Rituale werden im Allgemeinen mit traditionalen Gemeinschaften in Verbindung gebracht. In der Arbeit galt es somit zu überprüfen, ob sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Bevölkerungswachstum und der Modernisierung des Justizwesens – also einem vergrösserten Angebot an alternativen Konfliktregulierungsmöglichkeiten – an Bedeutung verloren. Dies impliziert letztlich die Frage nach Kontinuität und Wandel am Übergang von Ancien Régime zur modernen bürgerlichen Gesellschaft. Nicht zu letzt sollte den Lebenswelten der Akteure der Vergangenheit, die sich in den Gerichtsakten in gebrochener Weise widerspiegeln, Beachtung geschenkt werden.

 

Zur Beantwortung der Fragestellung wurden zwei Stichproben gebildet: Jeweils drei Jahre aus den 1820erund den 1840er-Jahren wurden ausgewertet. Daraus ergab sich der Quellenkorpus: Die Gerichtsakten und -protokolle von 102 Gewaltdelikten. In einem ersten Schritt wurde eine quantitative Auswertung mittels deskriptiver Statistik durchgeführt, welche die Erstellung eines Täterprofils sowie die Identifikation typischer Tatorte und Tatzeiten erlaubte. Darauf aufbauend wurde für typische Fälle mit hermeneutischen Methoden und dichter Beschreibung der Konfliktablauf rekonstruiert, wobei die Rituale und die soziale Logik der Gewalt erschlossen werden konnten. Typische Gewalttäter waren männlich, jung, ledig und gehörten der Unterschicht an. Gesellen verschiedenster Handwerke waren am häufigsten in Streithändel verwickelt. Dabei handelte es sich selten um marginalisierte Existenzen. Vielmehr waren die Beteiligten sozial integriert. Gewalt wurde hauptsächlich in den arbeitsfreien Abend- und Nachtstunden und in den Wirtshäusern sowie auf den Strassen und Plätzen des Stadtquartiers und Kleinbasels verübt. Gewalttaten in nicht-öffentlichen Kontexten, wie Wohnungen, Fabriken und Kontore, wurden nur selten vor Gericht verhandelt. In den Quellen und in der Literatur finden sich Hinweise, dass dort auch Angehörige der Ober- und Mittelschichten Gewalt ausübten. Aus gewalttätigen Streithändeln in der Öffentlichkeit hielten sich diese Schichten heraus. Ihre Streitigkeiten trugen sie im Wesentlichen vor Gericht aus, wie die zahlreichen Injurienklagen in den Gerichtsprotokollen nachweisen.

 

Gewalt wurde im Untersuchungszeitraum weiterhin als konfliktregulierendes Mittel eingesetzt. Die Gewaltanwendung war ritualisiert. Die Rituale wiesen jedoch Auflösungserscheinungen auf. Ehre stellte einen wichtigen Konfliktgrund dar und wirkte darüber hinaus als Katalysator in Konflikten. Gewalt diente der Konstruktion männlicher Identität. Es konnte aber auch eine wachsende Bedeutung der Lust an der Gewaltausübung festgestellt werden. Auf Zuschauer übte Gewalt eine starke Faszination aus.

 

Die Sicherheitskräfte der Stadt waren vielfach in gewalttätige Konflikte involviert. Sie konnten die städtische Gesellschaft nicht befrieden, sondern waren vielmehr Teil des Problems. Zudem offenbart sich in den Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitspersonal und Stadtbewohner eine Widerständigkeit der Unterschichten gegenüber Disziplinierungsversuchen (z.B. Wirtshausverbot) der städtischen Behörden.

 

Ausserdem konnte eine Annäherung der sozialen und ökonomischen Lage von Gesellen, Lohnarbeitern und Tagelöhnern festgestellt werden. Mitgliedschaften von Angehörigen aller dieser Gruppen in Handwerkervereinen sowie gemeinsame Geselligkeit weisen auf die beginnende Auflösung ständischer Gruppen und auf Klassenbildungsprozesse hin.

 

Insgesamt muss aufgrund der hier gesammelten Erkenntnisse davon ausgegangen werden, dass am Übergang zur Moderne im Bereich der kulturellen Praxis der Gewalt die Kontinuitäten gegenüber den Brüchen überwogen.

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