Am 7. August 1990 beschloss die Schweizer Regierung erstmals die offene und vollständige Beteiligung der Schweiz an Wirtschaftssanktionen der Vereinten Nationen. Mittels einer weltweiten Handels- und Finanztransaktionssperre sollte Iraks Führung dazu gebracht werden, ihre Truppen aus dem am 2. August 1990 besetzten Nachbarland Kuwait abzuziehen. Innerhalb der Schweiz stiess der Entscheid des Bundesrates auf breite Zustimmung. Die Iraksanktionen lösten aber eine Debatte über die Schweiz aus, denn in der Vergangenheit hatten Bundesrat und Politik die Beteiligung der Schweiz an Wirtschaftssanktionen aufgrund von Prinzipien wie der Neutralität und der Universalität ausgeschlossen. Der Widerspruch zwischen den mitgetragenen Iraksanktionen einerseits und der weiterhin unbeteiligten Haltung gegenüber dem Südafrikaembargo andererseits sorgte für Erklärungsbedarf. Die Reaktionen aus dem Nationalrat zeigten, dass nicht der Entscheid kontrovers war, sondern die daraus gezogenen Schlussfolgerungen. Was hatte der Entscheid für die Schweiz, für die Handhabung von zukünftigen Sanktionsfällen und am allermeisten für die schweizerische Neutralität zu bedeuten? Ein Begriff, mit wenig rechtlichem Inhalt, aber umso mehr politischen Vorstellungen zu dessen Bedeutungsgehalt.
Die Sanktionen gegen den Irak waren nur die ersten einer generellen Zunahme von internationalen Sanktionsbeschlüssen der Vereinten Nationen und anderen multilateralen Organisationen. Nach dem Ende des Kalten Krieges kam dieses aussenpolitische Instrument weit häufiger zum Einsatz. In der vorliegenden Arbeit wird anhand der Akten der Regierung und des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten untersucht, wie die Schweizer Sanktionspolitik in den 1990er Jahren gestaltet wurde, um dieser Herausforderung zu begegnen. Besonders ins Blickfeld genommen wird dabei, wie diese gegenüber dem In- und Ausland begründet und kommuniziert wurde. Welche politischen Diskurse wurden dabei aufgenommen und wie begegneten Regierung und Bundesverwaltung politischen Diskursen, die einer aktiveren Sanktionspolitik behindern konnten? Neben den Quellen aus dem Bundesarchiv beruht die Recherche auf den publizierten Quellen der Digital Library der Vereinten Nationen, den Schweizer Amtsdruckschriften und zeitgenössischen Medienbeiträgen. Aus diesen Dokumenten besonders hervorzuheben sind das Protokoll der Nationalratsdebatte vom 24.9.1990, der Schlussbericht der Studiengruppe zu Fragen der Neutralität und der Bericht über die Aussenpolitik der Schweiz in den 1990er Jahren, welcher im November 1993 erschien.
Es wird gezeigt, dass die Beteiligung an Wirtschaftssanktionen in der Bundesverwaltung im Kontext der Vorbereitungen auf die europäische Integration schon 1989 konzeptuell angedacht worden war und im August 1990 innert sehr kurzer Frist umgesetzt wurde. Die Beteiligung an nichtmilitärischen Sanktionen der UNO entwickelte sich in den 1990er Jahren zur ständigen Praxis der Schweiz. Die Gründe für den sanktionspolitischen Wandel lagen im Wandel des aussenpolitischen Umfelds am Ende des Kalten Krieges und der damit verbundenen Zukunftserwartung. Im funktionierenden System der kollektiven Sicherheit war die Beteiligung an den Sanktionen der Vereinten Nationen ein Beitrag an den internationalen Frieden und die kollektive Sicherheit der Weltgemeinschaft. Gleichzeitig sollte sich die Schweiz in ein friedliches und demokratisches Europa einbringen. Begründet wurde die Beteiligung an den Sanktionen jeweils mit einer Variante des Solidaritätsdiskurses, eine Solidarität, die sich an die internationale Staatengemeinschaft richtete. Nicht Teil der Argumentation waren diejenigen, für welche die Sanktionen mittelbis langfristig
Erleichterung verschaffen sollten.
Mit Abstand am meisten setzten sich die Akteure der Bundesverwaltung aber mit dem Neutralitätsdiskurs auseinander. In besonderem Masse galt das für die Direktion für Völkerrecht. In der Vergangenheit durch die Geistige Landesverteidigung aufgebläht und zum Identitätsmerkmal der Schweiz erhoben, bildete der Neutralitätsdiskurs gegenüber einer aktiveren Sanktionspolitik ein innenpolitisches Hindernis. So fanden sich die Bundesbehörden in der Situation wieder, mit verschiedenen Bewältigungsstrategien, bezeichnet als „Informationsauftrag‟, dem diskursiven Hindernis zu begegnen. Zu diesen gehörte das Sprechen über die Kontinuität der Neutralität und die zunächst noch neutralitätsrechtlichen Handhabung von militärischen Zwangsmassnahmen der UNO. Vor allem aber wurde immer wieder die Interessenslage der Schweiz erläutert, die für eine Beteiligung an kollektiven Sanktionen sprach, sei es als Beitrag zum Funktionieren des Systems kollektiver Sicherheit, sei es zur Vermeidung eines Rufschadens oder um eine Positionierung für den Rechtsbrecher zu vermeiden. Die Direktion für Völkerrecht entwickelte dafür die Formel: „Neutralitätspolitik ist Interessenpolitik‟.