Die Arbeit ist der Schweizer Bürgertums- wie Katholizismusforschung zuzuordnen bzw. führt diese beiden Forschungslinien am Beispiel der Arztfamilie Müller-Dolder aus dem luzernischen Beromünster zusammen.
Zunächst werden diese beiden Forschungstraditionen kritisch betrachtet und untersucht, inwiefern sie sich voneinander abgrenzen. Die massgeblichen Arbeiten zur Geschichte des Schweizer Bürgertums wurden von Albert Tanner und Philipp Sarasin publiziert. Nicht zufällig thematisierten sie, die an den Universitäten Zürich, Bern und Basel arbeiteten, das reformierte Stadtbürgertum in Zürich, Bern und Basel. Im Kontext der Bürgertumsforschung erschien der bürgerliche Katholizismus resp. das katholische Bürgertum lange Zeit als eine Art Black Box, wenn nicht als eine Abweichung vom Normalfall, den das protestantische Bürgertum darstellte. Die Zahl der Studien zu katholischem Bürgertum ist nach wie vor bescheiden. Implizit wie explizit, wurde suggeriert, dass Bürgerlichkeit etwas Protestantisches sei. Die wichtigste Arbeit zum katholischen Bürgertum war jene von Thomas Mergel zum Rheinland: er schreibt von einem „Milieugrenzgängertum“. Urs Altermatt, Hauptvertreter der Schweizer Katholizismusforschung, skizzierte den Katholizismus in der Schweiz seit dem Kulturkampf bis in die 1950er Jahre als ein eigenes, abgeschlossenes Milieu, das keine Verbindung zum (Wirtschafts-) Bürgertum aufweist.
Neben dem soeben beschriebenen Forschungsstand war ein überaus reicher und vielfältiger Quellenfundus Ausgangspunkt für die Arbeit. Dieser besteht aus den schriftlichen Zeugnissen der Familie Müller-Dolder aus Beromünster, das traditionell sehr katholisch geprägt ist. Die verwendeten Quellen lagern bis dato nicht abschliessend systematisch erschlossen im ‚Haus zum Dolder‘, dem ehemaligen Wohnhaus der Familie. Es handelt sich um Briefe, Notizbücher und kurze tagebuchartige Aufzeichnungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Grösster Teil des Korpus ist die Chronik von Beromünster, die von 1914 bis 1945 fast täglich festgehaltenen Beobachtungen zu Dorf- und Weltgeschehen des Landarztes Dr. Edmund Müller-Dolder. Ebenfalls Teil des Quellenkorpus sind Fotografien der Familie. Bei der Analyse dieser Quellen wurde klar, dass weder ausschliesslich auf dem Forschungsstand der Katholizismusforschung noch jenem der Bürgertumsforschung aufgebaut werden kann. Ziel der Arbeit war es deshalb, Einblicke in das ‚Doktorhaus‘ zu erhalten und es im Kontext der skizzierten Forschungslandschaft zu verorten. Die dafür genutzten Ansätze stammen aus der Mikrogeschichte und der Neuen Kulturgeschichte und rekurrieren sie auf das Habituskonzept Bourdieus und die Subjekttheorie von Andreas Reckwitz.
Zunächst wurde der historische Rahmen dargelegt und die Herkunft der Familien Müller und Dolder untersucht. Hier zeigt sich, wie politische Machtkämpfe für den Aufstieg einzelner Familien relevant waren. Mit dem Regierungswechsel von den Liberalen zu den Katholisch-Konservativen im Kanton Luzern 1871 gelangte ein Vertreter der Familie Müller in das Verwalteramt des Chorherrenstifts Beromünster, was die Familie aufsteigen liess. Die Familie Dolder gehörte als Kooperationsgeschlecht bereits einer gesellschaftlich höheren Schicht an. Bei beiden Familien lässt sich eine enge Beziehung zur katholischen Kirche und dem katholischen Glauben nachweisen, was sich in der Ausgestaltung der Heirat von Edmund und Hedwig Müller-Dolder in der Gnadenkapelle Einsiedeln offenbart.
Im zweiten Teil der Arbeit steht das aus der Verbindung hervorgehende Familienleben, die Erziehung und Ausbildung der Kinder und der Alltag im Doktorhaus im Zentrum. In puncto Praktiken, Rituale und normative Wahrnehmungen fällt hier durchgängig auf wie hochgradig bürgerlich, zugleich aber eben auch katholisch, die Müller-Dolders funktionierten. Würde man den Aspekt der Konfessionszugehörigkeit schlicht weglassen, könnten einige der aufgezeigten Gesichtspunkte – angefangen vom Bildungsstreben und der Erziehung der Kinder über die Freizeitgestaltung bis zur Diskrepanz zwischen beruflichem Erfolg und familiärer Hinterbühne – als prototypisch bürgerlich bezeichnet werden. Insofern finden sich hier zahlreiche Belege für eine konfessionsübergreifend situierte Bürgerlichkeit, deren „Wertehimmel“ ungeteilt scheint.
Der dritte Teil der Arbeit geht näher auf das ‚Haus zum Dolder‘ als Ort der Repräsentation und des kulturellen Austauschs mit der Öffentlichkeit ein. Edmund und Hedwig Müller-Dolder nehmen als Paar wie auch als Einzelpersonen an einer ortsübergreifenden, schweizweit ausgerichteten wissenschaftlichen Kommunikation unter den zeittypischen Bedingungen teil. Es zeigt sich erneut, wie bildungsbürgerlich das Streben und Wirken des Paarsindemländlich-katholischenOrtbeschaffen war. Die Arbeit plädiert, in Kontrast zu Teilen der Forschung, dafür Angehörige der „katholisch-bürgerlichen Eliten“ weder als „Milieugrenzgänger“ noch als Vertreter einer „inferioren“ Kultur zu betrachten und Kulturwertideen zu hinterfragen.