Im Zentrum der vorliegenden Masterarbeit stehen die Erlebnisse und Beobachtungen des Kriminalisten Rudolf Archibald Reiss im Ersten Weltkrieg. Reiss war ein aus Deutschland stammender Wissenschaftler, der sich an der Wende zum 20. Jahrhundert zum Studium in Lausanne niedergelassen hatte. Im Rahmen seiner beachtlichen Karriere an der Universität Lausanne etablierte er sich als Pionier von internationalem Ruf auf dem Gebiet der Forensik und Polizeiphotographie. Im Vorfeld des Ersten Weltkriegs trug Reiss massgeblich zur Einrichtung der Kriminalistik als universitäres Fach bei und war als gefragter Experte oft zu Forschungsaufenthalten im Ausland unterwegs.
Als die junge Balkannation Serbien nach Kriegsausbruch von der Armee Österreich-Ungarns angegriffen worden war, lud die serbische Regierung Reiss nach Serbien ein. Er sollte vor Ort seine forensischen Verfahren einsetzen, um die zahlreichen ‘Kriegsverbrechen’ der kaiserlich-königlichen Truppen an der serbischen Zivilbevölkerung zu dokumentieren. Reiss zeigte sich von dem Schicksal der serbischen Bevölkerung tief betroffen und ergriff für sie von nun an als ihr ausdrücklicher Sympathisant entschieden Partei.
So begann Reiss bald nach seiner Ankunft in Serbien mit dem Führen einer während der Kriegsjahre regelmässig in der „Gazette de Lausanne‟ erscheinenden Korrespondenz. In seinen Briefen berichtete Reiss ausführlich als Augenzeuge von dem Kriegsschauplatz in Serbien sowie in den angrenzenden Balkanländern und warb bei den heimatlichen Leser:innen um Anteilnahme und Verständnis für die Lage Serbiens. Die „Gazette de Lausanne‟ war fest im liberal-bürgerlichen Milieu der Romandie verwurzelt, dem sich auch Reiss selbst nach einer bewusst vorgenommenen Distanzierung von seiner deutschen Familie zugehörig fühlte. Die Zeitung hatte aussenpolitisch eine überwiegend frankophile und der Entente zugeneigte Ausrichtung, die naheliegenderweise in den Beiträgen aus Reissens Feder zum Ausdruck kam. Dies war vor dem Hintergrund der innenpolitischen Spaltung der Schweiz während der Kriegsjahre brisant. Entsprechend sah sich Reiss wegen seiner Darstellungen wiederholt mit Kritik konfrontiert und sah sich daher ausdrücklich zur Verteidigung seines Standpunktes veranlasst.
Die während der Kriegsjahre von Reiss in der „Gazette de Lausanne‟ veröffentlichten Artikel bilden die Quellengrundlage der Masterarbeit. Reissens Aufenthalt in Serbien und seine Rolle als Korrespondent sind bisher nur unvollständig erforscht, dies im Gegensatz zu seiner Karriere als Kriminalist in Lausanne, zu der es relativ umfangreiche Studien gibt. Die Kapitel zur Quellenuntersuchung sind thematisch gegliedert und behandeln u.a. den sprachlichen Stil von Reissens Artikeln, die Art, wie er heimische Leser:innen adressierte, seine oft minutiösen Darstellungen von ‘Kriegsverbrechen’ sowie seine Beurteilung des Kriegsgeschehens und der verschiedenen Akteur:innen des Krieges einschliesslich der Serb:innen selbst, die natürlich in seinen Texten zentral sind. Diese Beiträge zu Reissens Korrespondententätigkeit sind innerhalb der Arbeit verschiedenen einführend-kontextualisierenden Abschnitten nachgestellt, welche die Geschichtsschreibung Serbiens und allgemein des Balkans, die politische Lage in der Schweiz zur Zeit des Ersten Weltkrieges und letztlich die Biographie von Reiss zum Inhalt haben.
Bezüglich der Methodik der Arbeit bildet der Umgang mit Zeitungen als Quellengattung den wesentlichen Schwerpunkt. In diesem Zusammenhang kommt auch die Rolle von Propaganda zur Sprache, wie sie besonders in Kriegszeiten für Zeitungberichte kennzeichnend ist. Reissens Artikel sind als klar parteiergreifende Beiträge zu verstehen, in denen teils auch propagandistische Übertreibungen und Auslassungen zu erkennen sind, trotz der Neutralitätsbekundungen ihres Autors. Ferner befasst sich die Arbeit methodisch mit der Rolle von Reiss als westeuropäischer Akademiker in der für ihn fremden Welt des Balkans. In seinen Berichten übernahm er mitunter die Funktion eines Vermittlers, der seiner heimatlichen Leserschaft den fremden, exotischen und eher wenig beachteten Kriegsschauplatz in Südosteuropa näherbrachte. Diesem Umstand versucht die Arbeit mit methodischen Ansätzen zur Wahrnehmung von als „fremd‟ eingestuften Kulturen Rechnung zu tragen. In dieser Hinsicht thematisiert sie auch den Begriff des „Balkanismus‟, der die traditionell-westlichenEinschätzungenzum„Balkan‟als Region zusammenfasst. Reissens Darstellungen Serbiens und der Serb:innen selbst wie auch ihrer Nachbarnationalitäten waren nämlich von bemerkenswerten – positiven wie auch negativen – Stereotypen geprägt, die ein weiteres Augenmerk der Quellenuntersuchung bilden.