Naturkatastrophe und Modernisierungsprozess. Eine Analyse gesellschaftlicher Reaktionen auf das alpine Hochwasser von 1834 am Fallbeispiel Graubünden

AutorIn Name
Agnes
Nienhaus
Academic writing genre
Licenciate thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Pfister
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
1999/2000
Abstract

Im August 1834 ereignete sich im alpinen Raum eine überregionale ‹berschwemmung katastrophalen Ausmasses. Sie fiel in eine Zeit heftiger politischer Auseinandersetzungen innerhalb der Schweiz. So spielten sich auf der politischen Ebene harte Debatten und zum Teil bewaffnete Konflikte zwischen Befürwortern liberaler Verfassungen und eines Bundesstaates und den konservativen Bewahrern des lockeren Staatenbundes ab. Die angestrebten politischen Veränderungen waren Teil eines generellen Willens der Vertreter bürgerlichen Fortschrittsdenkens, althergebrachte gesellschaftliche Strukturen zu modernisieren.

 

Die Arbeit untersucht auf diesem Hintergrund und anhand des Fallbeispiels Graubünden die Problemlösungsmuster, die zur Bewältigung der Naturkatastrophe von 1834 vorgebracht und umgesetzt wurden. Dabei werden in einem ersten Teil Deutungsmuster, mittels derer die Katastrophe interpretiert wurden, vorgestellt, um die daraus entstehenden Bewältigungsansätze mentalitätsgeschichtlich einordnen zu können. Naturwissenschaftliche Deutungen und Lösungsperspektiven standen hier traditionellen abergläubisch-animistischen und christlich-religiösen gegenüber.

 

Ein letzter Teil widmet sich der Darstellung der gesamtschweizerischen Hilfsaktion zugunsten der Katastrophenopfer als einem Beitrag zur Bewältigung der ‹berschwemmungsfolgen. Auf der Aufbringungsseite der Hilfsaktion zeigt sich eine erste institutionelle Neuerung: Mit der ‹bernahme der Koordination der gross angelegten «Liebesgabensammlung» durch die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) wurde diese erstmals durch eine gesamtschweizerische Organisation ausgeübt, anstatt wie bisher bei einer kantonalen Organisation oder einer Kantonsregierung zu liegen. Dieser institutionelle nationale Integrationsschritt wurde begleitet von patriotischen Diskursen, die über breit gestreute Hilfsaufrufe und von den Regierungen verordnete Kirchenoder Tür-zu-Tür-Sammlungen einen Grossteil der Schweizer Bevölkerung erreichten und damit ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl mit grosser Wahrscheinlichkeit förderten. Im Bereich der Verteilung der Hilfsgelder wurden neue Problemlösungsansätze in der Naturkatastrophenhilfe entwickelt. Anstatt, wie ursprünglich vorgesehen, Gelder direkt an Betroffene auszuschütten, kam in Graubünden das neue Instrument der Infrastrukturhilfe zur Anwendung: Der Grossteil der Gelder sollte für HochwasserSchutzbauten verwendet werden, wobei die SGG gemeinsam mit den kantonalen Verantwortlichen Druck auf die lokalen Korporationen ausübte, anstelle traditioneller Wuhren moderne Wasserbauten zu erstellen. So konnte ein neues, technisches Problemlösungsmuster und der Einfluss der fortschrittsgläubigen Ingenieure – wie etwa des Kantonsingenieurs Richard La Niccas –gestärkt werden. Ein geringerer Teil der Hilfsgelder wurde an die Gruppe der ärmsten Betroffenen verteilt. Dafür zeichnete – erstmals in Graubünden – eine kantonale Kommission verantwortlich, deren Ziel es war, eine an rationalen Grundsätzen orientierte Verteilung durchzuführen. Gerade aufgrund der geringen Erfahrung mit derartigen Unternehmen hatte dies eine aufwändige und bürokratische Verteilaktion zur Folge. In den gewählten konkreten Verteilgrundsätzen ebenso wie in den generellen Diskussionen um die Verwendung der Gelder sind die zeitgenössischen armenpolitischen Diskurse deutlich abzulesen. «Arbeitsfähige» Arme wurden in der Verteilung gegenüber der Kategorie der so genannt «echten» Armen, die Kinder, Gebrechliche und Kranke umfasste, benachteiligt. Damit wollte man verhindern, dass die Hilfsgelder Müssiggang förderten. Eine Detailanalyse der Schadensbilder und Hilfsgelderverteilung in den Nachbarschaften wie hier Disentis, Zillis/Donath und Roveredo zeigt, dass die Auswirkungen der gewählten Gelderverwendung stark von der Verteilung der Schäden innerhalb der Dorfgemeinschaft und von den lokalen sozialen Strukturen abhing. In einem letzten Teil der Studie werden gesetzgeberische Reaktionen auf das Hochwasser im Bereich der Forstgesetzgebung thematisiert. Während vor der ‹berschwemmungskatastrophe wiederholte Anläufe zu stärkerer kantonaler Regulierung der Bündner Waldwirtschaft aufgrund lokalen Widerstandes fehl schlugen, wurde nach dem Hochwasser 1836 im Schnellverfahren eine erste Forstordnung erlassen. Das Hochwasser bot einen geeigneten Hintergrund, um mittels Schutzvorschriften erste Nutzungsregelungen und durch Einsetzung eines Kantonsförsters einen kantonalen Zugriff auf die Waldwirtschaft einzuführen.

 

Als Ergebnis der Studie kann festgehalten werden, dass über unterschiedliche Massnahmen der Katastrophenbewältigung kantonale und nationale Handlungsträger in ihrem Einfluss gestärkt wurden. Damit konnten auch auf verschiedenen Ebenen ñ im Wasserbau ebenso wie im Armenwesen oder in der Forstgesetzgebung – Modernisierungsschritte vollzogen werden. Voraussetzung war der Umstand, dass das Naturereignis durch sein katastrophales Ausmass Handlungsspielräume öffnete, indem die bestehenden institutionellen Regelungen der Katastrophenhilfe an ihre Grenzen stiessen und so neue Problemlösungsmuster möglich wurden. Anlässlich späterer Katastrophenfälle, wie etwa des alpinen Hochwassers von 1839, wurden die neuen Lösungsansätze gesamtschweizerisch weiterentwickelt und stabilisiert.

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