Anton Unternährer und seine Anhänger. Die Sekte der Antonianer im Kanton Bern von 1800–1831

AutorIn Name
Susanne
Müller
Academic writing genre
Licenciate thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Martin
Körner
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
1999/2000
Abstract

Anton Unternährer, der Gründer der Sekte der Antonianer, wurde 1759 in Schüpfheim im Entlebuch geboren. Nach seiner Heirat 1788 arbeitete Unternährer u.a. als Senn, Tischmacher und Hausierer. Er las medizinische und okkulte Bücher und erlernte das «Doktorhandwerki». Wegen der besseren Verdienstmöglichkeiten zog die Familie 1799 nach Ursellen und 1800 nach Amsoldingen, wo Unternährer als Arzt Menschen und Tiere mit Erfolg behandelte. Dort muss er in Kontakt mit pietistischen Gruppierungen gekommen sein. In der Meinung, von Gott dazu berufen zu sein, eine neue, «abschliessende» Version des Evangeliums zu schreiben, begann Unternährer ab 1800, seine religiösen Gedanken mündlich zu verbreiten und schriftlich festzuhalten. Er sah sich, als Inkarnation von Jesus Christus, von Gott zum Richter über die sündige Welt berufen. Mit der Begründung, das Jüngste Gericht sei gekommen, lud er seine Anhänger und den Obersten Gerichtshof von Bern auf den 16. April 1802 vor das Berner Münster ein. Dort wurden er und seine Gläubigen verhaftet. Grund für die Verhaftung Unternährers waren seine beiden regierungsfeindlichen Publikationen, die von der Obrigkeit Anfang April 1802 konfisziert worden waren. Unternährer wurde zu zwei Jahren Arbeitshaus verurteilt und nach seiner Entlassung 1804 wegen erneuter sektiererischer Umtriebe in Amsoldingen nach sechs Tagen wieder verhaftet. 1805 nach Luzern in Gefangenschaft gebracht, wurde er 1811 infolge guten Betragens nach Schüpfheim entlassen, wo ihn zahlreiche Anhänger besuchten und die von ihm verfassten Schriften in den Kanton Bern brachten. Er blieb von 1820 bis zu seinem Tod 1824 in Luzern inhaftiert.

 

Unternährer hielt seine Lehr- und Glaubenssätze in 24 Schriften fest. Diese wurden 1917 in einem 1004 Seiten umfassenden Buch mit dem Titel «Hier ist der Herri» herausgegeben. Er postulierte folgende Forderungen: freier Geschlechtsverkehr innerhalb der Gemeinschaft, Aberkennung der weltlichen Ehegesetze, Verwerfung der gesamten Obrigkeit, des Richter-, Lehr- und Predigtamtes, Nichtanerkennung der Taufe, Abschaffung des Gottesdienstes und Verwerfung des Abendmahls. Unternährer verstand sich u.a. als Inkarnation von Jesus Christus, als Richter der Ungläubigen, als Geist der Wahrheit und der Weissagung und als Mittler zwischen Gott und Mensch.

 

Die Antonianer, mehrheitlich der armen Unterschicht zugehörig, verbreiteten sich im Oberamt Thun, in den Ämtern Schwarzenburg, Seftigen und in den Oberämtern Interlaken und Bern. Ihr Anteil an der Bevölkerung im Kanton Bern entsprach ungefähr 0,1%. Die Anzahl der Mitglieder ging nach 1830 kontinuierlich zurück. Aufgrund der Verfolgung verbreitete sich die Lehre im Laufe des 19. Jahrhunderts in der ganzen Schweiz und den USA, wo nach 1900 die Schriften Unternährers neu verlegt wurden. Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts lesen in der Schweiz etliche Personen die Schriften Unternährers, von einem geschlossenen Verband kann hingegen nicht gesprochen werden.

 

Die Anhänger Unternährers wurden rechtlich wegen des Besitzes, der Verteilung und Verbreitung der Lehre und Schriften Unternährers, des Besuchens und Haltens verbotener Versammlungen, wegen der Verwerfung der Taufe und der Entziehung der Kinder von der Schule belangt. Zusätzlich wurde ihnen die Geringachtung und Verwerfung des Abendmahls, das Fernbleiben vom Gottesdienst sowie der Verstoss gegen Sitte und Moral (freier Geschlechtsverkehr innerhalb der Gemeinschaft) vorgeworfen. Durch ihre Distanzierung vom öffentlichen Gottesdienst und die Annahme und Verbreitung einer von der Landeskirche abweichenden Lehre machten sich die Antonianer der Sektiererei schuldig und stellten aus der Sicht der Behörden und der Geistlichkeit eine Gefahr für Kirche, Staat und Gesellschaft dar. Die Obrigkeit ging streng und unerbittlich gegen die Antonianer vor. ‹ber die Verführten wurden Strafen wie körperliche Züchtigung, Einweisung ins Arbeitshaus, fremde Kriegsdienste, Abschieben in die Heimatgemeinde, Ausweisung aus dem Kanton, Auswanderung, Gemeindeeingrenzung, Beaufsichtigung durch Gemeindevorsteher und Pfarrer und Entziehung der Ehrenämter (Vormund, Chorrichter, Gerichtssäss) verhängt. Die Verführer hatten zusätzlich zu diesen Massnahmen die Einweisung ins Irrenhaus, Ausweisung aus der Eidgenossenschaft und Bevormundung zu gewärtigen. Einige Antonianer distanzierten sich aufgrund der Strafen und Belehrung von den Glaubenssätzen, andere Gläubige bekannten sich infolge der Repressalien noch entschiedener zu Unternährer.

 

Es können folgende Gründe für den Erfolg Anton Unternährers in Betracht gezogen werden: 1. Historischer Kontext (Zusammenbruch der Alten Eidgenossenschaft mit allen Konsequenzen für Staat und Kirche). 2. Die Unfähigkeit der offiziellen Landeskirche, die Bedürfnisse der Einwohner nach Gemeinschaft, Gefühl, Geborgenheit etc. zu befriedigen. 3. Die Person Unternährers (durch seine medizinischen Erfolge, Ausstrahlung, Beredsamkeit und sein Charisma muss er auf seine Mitmenschen eine grosse Anziehungskraft ausgeübt haben). 4. Die Leichtgläubigkeit der Antonianer, die mangels genügender Schulbildung nicht in der Lage waren, die Schriften Unternährers mit der Bibel zu vergleichen und allfällige Unstimmigkeiten festzustellen, um sich so ein eigenes Urteil zu bilden.

 

Abschliessend ist zu vermerken, dass es sehr schwierig bis unmöglich ist zu eruieren, worauf der Erfolg Anton Unternährers letztlich gründete, da für die Annahme einer Ideologie oder einer Religion mehrere Faktoren, z.B. historische, soziologische und psychologische, eine Rolle spielen.

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