Die Singularität des Holocaust und die vergleichende Genozidforschung. Empirische und theoretische Untersuchung zu einem aktuellen Thema der Geschichtswissenschaft

AutorIn Name
Myriam
Gessler
Academic writing genre
Licenciate thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Stig
Förster
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
1999/2000
Abstract

“The comparison of instances of genocide is of course essential for the development of theory. Regretfully, however, comparison of genocide can also be misleading and fallacious.” (Robert F. Melson, Problems in the Comparison of the Armenian Genocide and the Holocaust. Definitions, Typologies, Theories, and Fallacies, in: Stig Förster/Gerhard Hirschfeld (Hg.), Genozid in der modernen Geschichte, Münster 1999, S. 22ñ35, hier S. 32).

 

Das Zitat des US-amerikanischen Politolo gen Robert F. Melson widerspiegelt die aktuelle Forschung, in der sich folgende Tendenzen abzeichnen: Immer wieder wird die Einzigartigkeit des Holocaust betont. Demgegenüber steht das Argument, dass in der Historie noch andere ähnliche Ereignisse vorlägen, so beispielsweise die Armenier-Massaker von 1915. Diese Angleichung der Fälle ruft besonders in Zusammenhang mit der ideologisch motivierten Bewältigung der Vergangenheit heftige Reaktionen hervor, versuchen doch rechtsgerichtete Revisionisten, die Vernichtung der europäischen Juden zu relativieren. Vor dem Hintergrund des emotional aufgeladenen Diskurses legen angelsächsische Sozialwissenschaftler den Schwerpunkt auf die Frage «was 

ist Genozid?». Sie untersuchen das Verhältnis der Shoah zu verschiedenen Verbrechen. Obwohl sich ihre komparativen Arbeiten auf gleiche Elemente konzentrieren (auf die Intention, auf Opfer, Täter und deren Handlungen), weichen die Konzepte teilweise erheblich voneinander ab. Angesichts der diffusen Situation kann eine sinnvolle Diskussionsgrundlage nur mittels Begriffsklärung geschaffen werden.

 

Historiker mischen in der vergleichenden Genozidforschung kaum mit, da sie dazu neigen, Gegensätze und Besonderheiten der Sachverhalte zu akzentuieren sowie kleinere Raumund Zeiteinheiten vorzuziehen. An dieser Stelle offenbart sich ein Spannungsfeld: Es sind gerade die Eigenarten der Geschichtswissenschaft, die über ein beachtliches komparatives Potential verfügen, das wesentlich zur differenzierten Singularitätsthese beiträgt.

 

Die Studie nimmt in der kontroversen Forschung eine Scharnierfunktion wahr, indem sie aufzeigt, dass die begriffliche Analyse des Phänomens «Genozid» bezüglich der Einzigartigkeit der Judenvernichtung fruchtbar sein kann. Von Interesse ist daher weniger die ereignisgeschichtliche Darstellung als die Betrachtung methodisch-theoretischer Leistungen der Historiographie und der Linguistik, die bisher übersehen wurden.

 

Zunächst wird die wissenschaftliche Debatte berücksichtigt. Um die Problematik der Singularität erkennen und beschreiben zu können braucht es eine kritische Reflexion der Genozidforschung, die argumentative Schwächen freilegt und unterschiedliche Verfahren im Hinblick auf die Vergleichbarkeit der Ereignisse prüft. Der zweite Teil setzt den Holocaust zu vier Fallbeispielen in Beziehung (der Massenmord an den Armeniern von 1915, die Vorgänge in Rwanda 1994, die Entkulakisierung unter Stalin und das Pol Pot-Regime in Kambodscha 1975ñ1979): Das generalisierende und kontrastierende Vorgehen erfasst typische und atypische Kriterien. Hierbei ergänzt die Semantik den historischen Vergleich dahin gehend, dass sie einerseits Völkermorde klar von anderen Gewalthandlungen unterscheidet, andererseits den Begriffskern markiert. Dieser besteht aus drei unerlässlichen Merkmalen, die jeder Genozid aufweisen muss: (a) Intention der Täter, (b) Dehumanisierung der Opfer, (c) Organisation und Durchführung des Völkermordes. Nichtzwingende Eigenschaften wie ÑRevolutionì hängen hingegen mit dem jeweiligen politischen, rechtlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontext zusammen. Ausschlaggebend ist, dass sich der historisch-linguistischen Methode gemäss die Shoah mit anderen genozidalen Begebenheiten vergleichen lässt. Dabei manifestiert sich ihre Einzigartigkeit nicht in der Abwesenheit der eruierten Merkmale, sondern in den individuellen Voraussetzungen und Konsequenzen. Die Erkenntnisse, die im Rahmen der empirischen Untersuchung gewonnen wurden, werden im letzten Teil der Arbeit auf abstrakter Ebene erweitert und verfeinert. Hier wird die entwickelte Forschungsalternative vorgestellt: das idealtypische Genozid-Modell. Drei wissenschaftliche Ansätze bilden sein Fundament: das psycholinguistische Prototypenmodell, die idealtypische Begriffsbildung von Max Weber und Carl von Clausewitzí Überlegungen zum realen und absoluten Krieg. Der Idealtypus weist alle kennzeichnenden Merkmale des Phänomens «Genozid» in reinster Form auf; d.h., in der Wirklichkeit können sich Fälle dem Konstrukt nur bis zu einem gewissen Grad annähern. Ein Modell, das den Holocaust als Endstufe vorsähe, griffe eindeutig zu kurz, denn vergangene und zukünftige Genozide würden sich bezüglich ihrer Typizität nach einem bestimmten historischen Ereignis richten. Gerade hier erweist sich die idealtypische Betrachtung als Vorteil: Der Idealtypus verkörpert keinen realen Genozid. Dadurch ist stets eine Steigerung möglich, die nicht die Zahl der Merkmale in den Vordergrund rückt, sondern das qualitative Verhältnis bzw. die Intensität der Fälle. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, stellt die Vernichtung der europäischen Juden das ausgeprägteste Beispiel eines realen Völkermordes dar.

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