Die Entwicklungs- und Wirtschaftspolitik unter der Nationalen Front Kolumbiens (1958-1974)

AutorIn Name
Stephan
Suhner
Academic writing genre
Licenciate thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Stig
Förster
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
1998/1999
Abstract

Kolumbien wurde während dem ganzen 20. Jahrhundert abwechselnd von der liberalen und der konservativen Partei regiert. In den ersten drei Jahrzehnten verfolgte Kolumbien unter der Herrschaft der konservativen Partei eine Entwicklung nach aussen. Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise verfolgten die liberalen Regierungen ab 1930 eine Entwicklung nach innen und förderten mit Staatsintervention die importsubstituierende Industrialisierung. Die historische Rivalität zwischen der liberalen und der konservativen Partei um die Macht im Staat gipfelte 1948 in einem Gewaltausbruch - der Violencia -, der bis 1953 andauerte und nur durch eine Militärregierung beendet werden konnte.

 

Die Gefahr der Dauerhaftigkeit der als Übergangslösung gedachten Militärregierung führte zu einem Abkommen zwischen den beiden ehemals verfeindeten Parteien, in dem die strikte gemeinsame Regierungsausübung während 16 Jahren festgelegt wurde (Parität in Kongress und Verwaltung, Alternation im Präsidentenamt). Die aus diesem Pakt von 1957 entstandene Regierungskoalition wurde als Nationale Front (NF) bekannt und sollte dem Land eine ausserordentliche politische Stabilität bescheren, gleichzeitig aber auch den Grundstein für einen Grossteil der heutigen Probleme legen.

 

Die Nationale Front startete in einem interessanten entwicklungspolitischen Umfeld. Die UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika - CEPAL - war mit ihren Konzepten wie dem wachstumsorientierten Desarrollismo, der importsubstituierenden Industrialisierung, der Entwicklungsplanung und der Theorie der sich verschlechternden Austauschbeziehungen die in Entwicklungsfragen bestimmende Denkschule und beeinflusste auch die Entwicklungsstrategie der NF massgeblich. Die kubanische Revolution war ein Fanal für die USA und ganz Lateinamerika und führte zur Allianz für den Fortschritt. Deren Vorgaben - u.a. Strukturreformen wie eine Agrarreform - beeinflussten die Entwicklungspolitik der Nationalen Front ebenfalls stark, Kolumbien wurde das Musterland der Allianz. Nicht zu unterschätzen war auch der Einfluss der Monetaristen von Weltbank und IWF. Und nicht zu vergessen: die 1960 Jahre wurden zur ersten UN-Entwicklungsdekade ernannt. 

 

Das Abkommen über die NF war primär eine politische Lösung für politische Probleme, wirtschaftliche Aspekte wurden im Abkommen nicht angeschnitten. Da die Entwicklungsprobleme aber ebenfalls schwer wogen, wurde in der vorliegenden Arbeit der Frage nachgegangen, inwieweit die NF in diesem günstigen internationalen Rahmen und durch die - zumindest vordergründige Überwindung – der politischen Differnzen auch Raum für eine Lösung dieser Probleme bot. Dabei wurde bewusst zwischen den Konzepten Wachstum, Entwicklung und Wohlstand unterschieden, und zumindest am Rande auch die gesellschaftliche und politische Entwicklung einbezogen.

 

Die Entwicklungsleistung der NF wurde wesentlich durch ihre politischen Strukturen und durch das Kräfteverhältnis zwischen reformorientierten und bewahrenden Kräften konditioniert. Die Konservativen waren traditionell eher in der Minderheit und hatten mit der wesentlich von ihnen ausgelösten Violencia versucht, ihre Herrschaft und ihr Gesellschaftsmodell gegen die liberalen Reformbestrebungen zu verteidigen. Die Nationale Front ermöglichte ihnen die Sicherstellung der Machtbeteiligung und eine weitgehende Kontrolle über die Reform- und Modernisierungskräfte. Wollten die an sich mehrheitsfähigen Liberalen nicht das Risiko einer Neuauflage der Violencia in Kauf nehmen, mussten sie versuchen, innerhalb des starren Systems der NF ihre Reform- und Modernisierungsvorschläge einzubringen. Dies tat der erste liberale Präsident der NF denn auch mit dem Anspruch, eine Entwicklungsstrategie für 16 Jahre zu entwerfen, an deren Ende eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung stehen sollte. Er rechtfertigte die NF daher nebst den politischen Aspekten stark mit der Notwendigkeit, die Rückständigkeit und die Entwicklungshindernisse zu überwinden, die soziale Ungleichheit zu lindern und gleichzeitig das wirtschaftliche Wachstum zu beschleunigen. Damit nahm er die weitverbreitete Hoffnung auf, dass das Abkommen zwischen den beiden Traditionsparteien eine längerfristige Politik erlaube, die das Land in Richtung Demokratie und Wohlstand führe, nachdem in den 15 Jahren zuvor durch kurzsichtige Machtpolitik wertvolle Chancen verpasst worden waren.

 

Die 1958 schon in groben Zügen vorgegebene Entwicklungsrichtung wurde in groben Zügen weiterverfolgt, die Trägheit des auf Konsens beruhenden politischen Systems verhinderte jedoch manchmal zeitige Anpassung, und die Obstruktionshaltung der konservativen, bewahrenden Kräfte verhinderte eine effektive Umsetzung der Reformbestrebungen. Die Oligarchie war nicht bereit, zugunsten der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung auf ihre traditionellen Privilegien zu verzichten. So verzeichnete Kolumbien in den 16 Jahren zwar ein respektables Durchschnittswachstum von deutlich über 4%, blieb aber weit hinter den gesteckten Entwicklungs- und Wohlstandszielen zurück. Statt sich im Laufe der Jahre zu öffnen, verhärtete sich das an sich schon ausschliessende politische System der NF weiter, schloss breite Massen von der politischen Partizipation aus und entwickelte sich immer mehr zu einem Instrument der Machterhaltung der Oligarchie. Gegen Ende der NF wirkte sich die politische Unterentwicklung jedoch weit gravierender als die wirtschaftliche Unterentwicklung aus, da es die Führer der NF unterlassen hatten, institutionalisierte Kanäle der Konfliktbewältigung zu öffnen, um die gestiegenen, aber unerfüllten Erwartungen des Volkes zu absorbieren.

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