Recht und Gesetz. Ein konfligierendes Verhältnis im 16. Jahrhundert. Das bischöflich-augsburgische Tigen Rettenberg als Beispiel

AutorIn Name
Philipp
Dubach
Academic writing genre
Licenciate thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Peter
Blickle
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
1997/1998
Abstract

Wie reagiert eine Gesellschaft, die in einer vorwiegend schriftlosen Rechtskultur lebt, auf die Anfänge der Gesetzgebung? In den Territorien des Heiligen Römischen Reiches wurden seit dem Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert mit zunehmender Intensität Gesetze erlassen, die sich an breite Teile der Bevölkerung richteten. In der mündlich geprägten Rechtskultur des Mittelalters war Recht überwiegend in gerichtlichen Urteilen konkretisiert worden. Dabei hatten Rechtsgenossen der Konfliktparteien das strittig gewordene Recht über konsensuale Verfahren wiederhergestellt. Das frühneuzeitliche Gesetz dagegen wurzelt nach dominanter rechtsgeschichtlicher Auffassung im herrschaftlichen Gebotsrecht. Der genossenschaftlich-konsensualen Rechtsbildung des Mittelalters steht die frühneuzeitliche Rechtssetzung „von oben" entgegen. Die Gegensätzlichkeit der beiden Rechtsbildungsverfahren wirft die Frage auf, ob die Anfänge der obrigkeitlichen Gesetzgebung zu Auseinandersetzungen zwischen Herrschaft und Untertanenschaft führten. Die Lizentiatsarbeit untersucht die Frage am Beispiel des Pflegamts Rettenberg, eines im Oberallgäu gelegenen Verwaltungsbezirks des Hochstifts Augsburg. Zeitlicher Fluchtpunkt und Zentrum der Arbeit bildet der sogenannte „Rettenberger Aufstand" (1605-1608). Die Gesetzgebung setzte im Pflegamt Rettenberg und Hochstift Augsburg, von wenigen Ausnahmen abgesehen, im 16. Jahrhundert ein. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts hatte sich die hochstiftische Regierung als autoritärer Gesetzgeber zunehmend etabliert. Rief diese Entwicklung in der Bevölkerung Widerspruch hervor, so ist zu erwarten, dass dieser im Verlauf des Aufstandes, eventuell schon früher, explizit formuliert wurde.

 

Die Arbeit fusst hauptsächlich auf der Auswertung von Quellen des Staatsarchivs Augsburg, des Archivs des Bistums Augsburg und des Tiroler Landesarchivs in Innsbruck. Ihre Ergebnisse präsentiert sie in drei Schritten: ein erster Teil schildert den ereignisgeschichtlichen Verlauf des Aufstandes, ein zweiter Teil die Rechtsentwicklung im Hochstift Augsburg und im Pflegamt Rettenberg. Ein dritter Teil führt die beiden Linien zusammen und fragt danach, welche Bedeutung der obrigkeitlichen Gesetzgebung im Rettenberger Aufstand zukam. Das Pflegamt Rettenberg stellte einen eigenen Rechtsbezirk dar. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts fand die Rechtsentwicklung primär im Rahmen des Pflegamts und unter Beteiligung der bäuerlichen Genossenschaft, des sogenannten „Tigens" Rettenberg, statt. Diese Verhältnisse kehrten sich ab der Jahrhundertmitte in ihr Gegenteil. Von da an dominierten Gesetze, die für das gesamte Stiftsgebiet Geltung beanspruchten und allein von der hochstiftischen Regierung in Kraft gesetzt wurden. Trotzdem blieben Proteste gegen die hochstiftische Gesetzgebung im Pflegamt Rettenberg während des 16. Jahrhunderts die Ausnahme. Im Rettenberger Aufstand spielte die obrigkeitliche Gesetzgebung schliesslich in zweierlei Hinsicht eine Rolle. Zum einen wurde der Aufstand durch den angedrohten Vollzug eines Religionsgesetzes ausgelöst, das den Bauern die Auswanderung an lutherische Orte verbot und den ausserhalb des Hochstifts weilenden Untertanen die österliche Beichte zur Pflicht machte. Zum anderen kam es im Verlauf der Unruhen mehrfach zu Auseinandersetzungen über die Strafkompetenz der Amtleute. Um die Handlungen ihrer Beamten zu rechtfertigen, berief sich die stiftische Regierung auf vorgängig in Kraft gesetzte Mandate und Ordnungen.

 

Der Protest der Rettenberger Bauern gegen die hochstiftische Gesetzgebung blieb während des Aufstandes auf den Normvollzug und auf Einzelfälle konzentriert. Obwohl das Tigen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts an der Gesetzgebung teilgehabt hatte, wurde ein solcher Anspruch nicht geltend gemacht. Gleichzeitig schickte sich aber die Obrigkeit an, den Gesetzescharakter (Schriftlichkeit, zeitliche und personale Allgemeingültigkeit) von Mandaten und Ordnungen gegenüber den Untertanen auszuspielen. Dies geschah vor allem auf der Ebene der Legitimation. Die Herrschaft akzeptierte zwar weiterhin, dass die Rechtmässigkeit ihrer Eingriffe in die bäuerliche Lebenswelt davon abhing, ob diese ein stillschweigend konsentiertes "altes Herkommen" darstellten. Jedoch veränderte sie den Bezugsrahmen des „alten Herkommens": Sie bezog den Ausdruck nicht mehr auf die gelebte Praxis, sondern auf den Zeitpunkt, an dem die Vorschrift, die der Handlung zugrundelag, publiziert worden war. Aus historischer Distanz betrachtet, hätten die Bauern, um mit dieser Entwicklung standzuhalten, ihre Partizipationsansprüche zu einem früheren Zeitpunkt anmelden müssen: auf Stufe der Gesetzgebung. Dies hätte freilich auch bedeutet, dass sie vom entstehenden Gesetzgebungsstaat in die Pflicht genommen worden wären. Die Rettenberger Bauern wählten die radikalere Variante. Ihr Beharren darauf, bei der Umsetzung von Normen im Einzelfall mitsprechen zu können, war mit dem Anspruch der Herrschaft, das gesellschaftliche Leben über Gesetze zu ordnen, unvereinbar. Zugespitzt formuliert: Gerade weil die Bauernschaft sich weigerte, die Systemzwänge des Gesetzgebungsstaates zu akzeptieren, besass der Konflikt zwischen Recht und Gesetz einen um so grundsätzlicheren Charakter.

 

Die Arbeit wird gegenwärtig zur Dissertation erweitert. Dabei wird die Gesetzgebung des Kantons Appenzell für das 15. und 16. Jahrhundert aufgearbeitet und derjenigen des Pflegeamts Rettenberg entgegengestellt. Ziel des Vergleichs ist es, die Bedeutung der politischen Verfassung (Republik und geistlicher Fürstenstaat) für die Inhalte und die Form der Gesetzgebung herauszuarbeiten.

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