Aussterben oder Verarmen? Lebensführung und wirtschaftliche Verhältnisse der Berner Patrizierfamilie Effinger von Wildegg (1825-18115)

AutorIn Name
Felix
Müller
Academic writing genre
PhD thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Martin
Körner
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
1998/1999
Abstract

In der ständisch gegliederten Gesellschaft der Frühen Neuzeit stand der Adel zwar an der Spitze, damit aber auch unter Druck: Er musste seine Stellung behaupten. Dies bedingte eine standesgemässe, für den Adel somit aufwändige Lebensführung. Neben dieses Ziel trat gleichberechtigt ein zweites: das Aussterben des Geschlechts zu vermeiden. Daraus ergab sich ein Dilemma: Um den Weiterbestand des Geschlechts zu sichern, brauchte es viele Kinder. Viele Kinder bedeuteten jedoch viele Erben, eine Zersplitterung des Vermögens und damit gesellschaftlichen Abstieg. Selbst wenn die Kinder nicht erbten, war ihre Erziehung doch kostspielig.

 

Die wirtschaftlichen Verhältnisse spielen eine zentrale Rolle: Welche Ausgaben für den Standesaufwand erlauben die Vermögensverhältnisse, ohne dass die Substanz angegriffen wird? Lassen sich die Einkünfte nachhaltig steigern?

 

Diese Fragen habe ich am Beispiel des Berner Patriziergeschlechts Effinger untersucht. Es bot die Vorteile der überschaubaren Grösse – 130 Personen – und einer guten Quellenlage. Der bearbeitete Zeitraum umfasst für das generative Verhalten die Jahre zwischen 1550 und dem Aussterben 1912, für die Lebensführung und das Wirtschaften die Jahre von 1725 bis 1815.

 

Hauptsächliche Quellenbasis bilden die Urkunden und Akten des Schlossarchivs Wildegg, die weitgehend erhalten sind. Sie umfassen namentlich Briefe und persönliche Notizen, zwei Tagebücher, Erbinventare, Jahresrechnungen der Verwalter, Unterlagen zu einzelnen Gütern. Die Dichte der Quellen variiert, günstig sind vor allem der Zeitraum von 1750 bis 1780 und die Jahre um 1800. Dazu kommt der – allerdings für die Auswertung heikle – Sachgüterbestand: Schloss Wildegg mit seiner Baugeschichte, die Ausstattung wie Möbel und Gemälde und die Schlossbibliothek. Ergänzend habe ich Bestände in den Staatsarchiven Aargau und Bern (Verhältnis zum Staat) sowie Waadt (Nachlass Sigmund Effingers) sowie in der Burgerbibliothek Bern verwendet.

 

Das generative Verhalten der Effinger entspricht im 16. und 17. Jahrhundert den Erwartungen: einige Ledigbleibende, ein hohes Heiratsalter und viele Kinder pro Vater. Überlebte nur ein Sohn die Kindheit, heiratete er jung. Nach 1700 nahm die Kindersterblichkeit bei den Effingern massiv ab, worauf die Kinderzahl pro Vater ebenfalls zurückging.

 

Die gesellschaftliche Stellung der Effinger war klar: Sie besassen seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert Schloss Wildegg und zählten zum Landadel. In den Grossen Rat gelangten sie erst 1680 und gehörten seither zum bernischen Patriziat. Die soziale Stellung zeigte sich in den Verkehrskreisen: Die meisten Ehepartner stammten aus dieser Gruppe, ebenso – bis auf wenige Ausnahmen – die Paten ihrer Kinder. Selbst bei den Besuchern auf dem Schloss blieben nur die aus dem bernischen Patriziat mehrere Tage oder Wochen. Wichtig war den Effingern die Anerkennung ihrer Position durch die Mitmenschen: ihr Prestige. Sie pflegten es, indem sie seine Verkörperungen – vor allem Schloss und Ahnengalerie – in der Familie bewahrten, indem sie den Ruhm des Geschlechts und einzelner Vorfahren verkündeten sowie die Normen ihres Standes einhielten. Bei ihren Betätigungen hiess das: keine manuelle Erwerbsarbeit. Ihre Musse verbrachten sie hauptsächlich in Gesellschaft.

 

Auch die Erziehung war auf die Anforderungen des Standes ausgerichtet: Sie stellte das Auftreten, den gewandten Umgang in den Vordergrund, Fachqualifikationen waren nicht gefragt. Aber nicht nur die Inhalte, auch die teure Durchführung mit Hauslehrern, exklusiven Instituten und kostspieligen Sprachaufenthalten schuf Distanz zu den anderen Ständen.

 

Die Aufklärung liess die Effinger nicht unberührt. Sie nahmen daran jedoch nur oberflächlich teil, wie die Analyse der Familienstruktur und des Umgangs mit Information zeigt. Bei der Familienstruktur sind nur geringe Veränderungen festzustellen: Die Kinder blieben länger zu Hause oder zumindest in der Nähe, das Verhältnis zur Dienerschaft wurde distanzierter. Von den neuen Informationsmöglichkeiten machten die Effinger zwar regen Gebrauch: Sie kauften mehr Bücher, abonnierten Zeitungen und Zeitschriften, schrieben mehr Briefe, gingen auf Reisen und traten verschiedenen Gesellschaften bei. Dabei berücksichtigten sie auch Publikationen und Sozietäten, die nicht patrizische Interessen vertraten. Jedoch gehörten die meisten Bücher zur Unterhaltungsliteratur, bei den Sozietäten stand der gesellige Aspekt im Vordergrund und der Informationsgehalt der Briefe nahm ab.

Die Einkünfte, aus denen dieser Aufwand bestritten wurde, stammten aus Amtseinkommen und Vermögensertrag. Andere Erwerbstätigkeiten trugen nichts ein – so der Solddienst – oder wurden von den Effingern verschmäht, etwa die Berufe des Landschreibers oder des Pfarrers.

Das Verhältnis der Effinger zum Staat kann man als Teilhaberschaft bezeichnen. Erträge wurden aber fast nur an die Oberamtleute ausgeschüttet, bei der Verteilung dieser Stellen kamen die Effinger in durchschnittlichem Mass zum Zug. Für den Wildegger Zweig trugen die Amtseinkommen weniger als 20 Prozent zu den Gesamteinkünften bei. Daneben standen die Effinger als Inhaber herrschaftlicher Rechte in Konkurrenz zum Staat und wurden in ihren Kompetenzen zunehmend eingeschränkt.

 

Das Vermögen umfasste Grundbesitz – Landwirtschafts- und Gewerbebetriebe, Häuser in Bern und Landsitze – und Rentenbesitz: Bodenzinse, Zehntrechte und Wertpapiere. Untersuchen liessen sich nur die Verhältnisse der Schlossherren.

 

Der landwirtschaftliche Besitz nahm bis etwa 1770 zu, in der ersten Jahrhunderthälfte durch Kauf, nachher vor allem durch Urbarisierung von Schachen. Seit den 1760er Jahren wurden grössere Flächen abgestossen durch Verkauf auswärtiger Betriebe, einen umfassenden Landabtausch und seit den 1790ern durch mehrere Verkäufe in Wildegg. Getreide blieb das Hauptprodukt, doch gewannen Viehhaltung und Rebbau an Bedeutung. Kurz nach 1770 wurde die Brache abgeschafft und die Ganzjahr-Stallhaltung eingeführt. Das gezielte Ausbringen des dabei anfallenden Düngers und der Anbau von Kleearten liessen die Düngerlücke überwinden. Zusammen mit der Ausweitung des Kartoffelanbaus führte diese Neuerung zu einer Erhöhung der Flächenproduktivität um mindestens 20 Prozent. Gleichzeitig trat an die Stelle der Halbpacht (Pächter und Grundbesitzer erhalten je die Hälfte des Ertrags) die Bewirtschaftung durch Angestellte. Dank dieser Massnahmen stiegen die Einkünfte aus der Landwirtschaft bis gegen 1800 deutlich an.

 

Der gewerbliche Besitz zählte bis nach 1770 sieben Betriebe, nahm vorübergehend zu und darauf stark ab, bis 1810 nur noch die Ziegelhütte übrig blieb. Der Rentenbesitz variierte stark: Zehntrechte und Bodenzinse wurden nach 1804 vollständig abgelöst, aber schon in den 1750ern hatte der Schlossherr Bodenzinse abgestossen. Die Wertpapiere dienten als Zahlungsmittel für grosse Beträge.

 

Die Vermögenslage der Wildegger Schlossherren blieb längerfristig stabil, was nicht selbstverständlich ist, da jeweils mehrere Kinder erbten. Dabei profitierten die Effinger von lukrativen Heiraten und von Erbschaften, doch trug auch die Bewirtschaftung des Vermögens dazu bei.

 

Als wirtschaftliches Ziel gab Johann Bernhard Effinger die Wahrung des Standes an. Angesichts der geschilderten Massnahmen scheint dies auf den ersten Blick paradox, erklärt sich aber aus dem generativen Verhalten: Statt die Kinderzahlen zu beschränken, steigerten die Wildegger Schlossherren die Einkünfte, damit alle Kinder eine angemessene Ausbildung und Ausstattung erhielten.

 

Den Effingern gelang im 18. Jahrhundert der Spagat, nicht auszusterben und nicht zu verarmen. Wie weit sich dies für das bernische Patriziat verallgemeinern lässt, muss offen bleiben. 1798 waren die Effinger wohlhabender als der Durchschnitt ihrer Standesgenossen, und sie waren daran, ihre Stellung zu verbessern: 1786 gelangte der erste von ihnen in den Kleinen Rat, 1795 hatten sie erstmals sechs Grossratssitze inne.

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