Die Armenfürsorge des bernischen Staateswurde im 18. Jahrhundert massgeblich vom Konflikt zwischen den Ansprüchen von Wohlfahrt und Staatsökonomie, den beiden Grundmaximen der kameralistischen Staatstheorie geprägt. Ab Ende des 17. Jahrhunderts vollzog Bern durch die Delegation verschiedenster Aufgabenbereiche an neu geschaffene Verwaltungskammern eine Konsolidierung und Spezialisierung seiner gesamten territorialen Verwaltung. Im Bereich der Armenfürsorge trug die Arbeit der 1672 als eine der ersten Verwaltungskammern eingesetzten Almosenkammer wesentlich zur Durchsetzung des Prinzips bei, Bedürftige primär von ihren Heimatorten versorgen zu lassen, das bis zur Einführung des wohnörtlichen Armenfürsorgeprinzips 1857 das bernische Fürsorgesystem prägen sollte. Mit dem Ziel einer verbesserten Kontrolle der staatlichen Ausgaben zur Versorgung bedürftiger Untertanen baute die Almosenkammer im 18. Jahrhundert ein strikt einzuhaltendes Bewilligungsverfahren auf: Jeder Landvogt hatte bei ihr zuerst eine Bewilligung einzuholen, bevor er einem Unterstützungsbedürftigen seiner Landvogtei einen Beitrag in Geld oder Getreide auszahlte. Die zur Kontrolle ihrer Ausgabenpolitik von der Kammer konsequent in ihren Sitzungsprotokollen archivierten Unterstützungsentscheide liefern eine einzigartige Grundlage zur quantitativen Erfassung einer sich über ein weitläufiges Staatsgebiet erstreckenden Almosenpraxis.
Anhand der Auswertung sämtlicher Unterstützungsentscheide der Almosenkammer der Jahre 1730-32 und 1780-82 konnten Leistungsumfang, geographische Verteilung sowie strukturelle und diachrone Unterschiede der landesweit von den Landvogteien und der Kasse der Almosenkammer ausgezahlten Unterstützungen ermittelt werden. Die detaillierte Konjunkturanalyse, die eine Beurteilung der Einflüsse von Ernte- und Preiskrisen sowie von administrativen Reorganisationsschritten auf die staatliche Almosenpraxis ermöglichte, berücksichtigte als zusätzliche quantitative Datenbasis sämtliche Unterstützungsentscheide, die von 1730 bis zum Ende des Ancien Régime für Bedürftige aus den Seeländer Landvogteien Nidau und Büren gefällt wurden. Die qualitative Untersuchung der Almosenkammer-Manuale in ihrer Anfangsphase von 1672-76 sowie zwischen 1730 und 1797 lieferte ergänzend dazu einen Querschnitt des Verwaltungsalltages der Kammer, der nebst Unterstützungsentscheiden mit der Klärung strittiger Burgerrechte, der Zurechtweisung widerspenstiger, sich den normativen Vorgaben zur kommunalen Armenfürsorge entziehender Gemeinden und der Ausarbeitung neuer Leitlinien und organisatorischer Strukturen beladen war, und bot Einblick in Argumentationen und Diskurse sowie die unterschiedliche Wahrnehmung von Armut, Bedürftigkeit und Unterstützungswürdigkeit durch Obrigkeit, Gemeindevertreter und bedürftige Bittsteller.
Die breit angelegte quantitative Untersuchung hat zur Aufdeckung neuer, bisher unberücksichtigter Aspekte territorialer Armenfürsorge geführt und dabei auch diverse Thesen der bisherigen Forschung bestätigen oder endgültig als Fehlannahmen entlarven können. Dabei ist in erster Linie die Zahl der vom Staatunterstützten Bedürftigen zu erwähnen, die nicht nur absolut, sondern auch relativ zur Gesamtbevölkerung im Laufe des Jahrhunderts um ein Vielfaches anstieg und damit eindrücklich das zunehmende wohltätige Engagement des Staates dokumentierte. Dieser Anstieg kann zum einen als Resultat einer Ressourcenverknappung und damit einer wachsenden Zahl von Bedürftigen in der Bevölkerung angesehen werden. Zum andern dokumentiert er aber auch die landesweite Durchsetzung einer neuen, nach administrativen Minimalstandards funktionierenden Armenfürsorge der Landgemeinden. Auf einen durch die Verschlechterung der Existenzbedingungen der Unterschichten zunehmenden Bedarf an staatlicher und kommunaler Unterstützung lässt der konjunkturelle Verlauf der Fürsorgezahlen in den Ämtern Nidau und Büren schliessen, der ab Mitte der 1770er Jahre Wachstumsraten in bis anhin unbekannter Höhe aufwies. Damit wird auch die These von Richard Feller endgültig widerlegt, wonach es im 18. Jahrhundert auf der bernischen Landschaft dank einer ausreichenden Beschäftigungslage zu einer Abnahme der Armut gekommen sei (Richard Feller, Geschichte Berns, Bd. III, Bern 1955, S. 569).
Auch die Klientel der staatlichen Armenfürsorge veränderte sich in auffallender Weise. Zu der traditionell als unterstützungswürdig angesehenen Armut, den Alten, Kranken und Behinderten, gesellten sich in zunehmendem Mass intakte und erwerbstätige Familien. Diese neue Armut der Working Poor nahm besonders nach der Versorgungskrise von 1770/71 immer grˆsseren Raum auf den staatlichen Unterstützungslisten ein. Die in dieser Krise ganz besonders deutlich erkennbare Bereitschaft der staatlichen Organe, auf akute Versorgungsengpässe mit einer Erhöhung der Armenfürsorge-Etats zu reagieren, weist auf die zentrale Rolle hin, die der paternalistische Staat zu übernehmen bereit war, um die konjunkturelle Armut einzudämmen oder zumindest vor einem Abdriften in Verwahrlosung und ungezügelte Bettelei abzuhalten. Sie mag letztlich auch als wichtiges Indiz dafür zu werten sein, weshalb es in bernischen Landen in diesen Jahren nicht zu einer Hungerkrise kam.
Im Laufe des 18. Jahrhunderts entwickelte die bernische Armenfürsorge ein flächendeckendes Angebot. Die stärkere Bedienung der peripheren Gebiete mit staatlichen Fürsorgeleistungen ist ein Hinweis auf die Konsolidierung landesherrlicher Wohltätigkeit im Speziellen und einer verbesserten Integration der Randgebiete in die bernische Verwaltungsstruktur im Generellen. Mit der Stärkung der Armenfürsorge in der Peripherie ergab sich ein - wenn auch nur leichter - Ausgleich des Zentrumsgefälles. Die Frage nach den Hintergründen regionaler und lokaler Unterschiede der staatlichen Armenfürsorge Berns lässt sich nicht abschliessend beantworten. Die geografische Analyse macht jedoch deutlich, dass nicht nur der Grad der Verarmung und das Leistungsangebot der kommunalen Armenfürsorge einer Region für die Intensität der staatlichen Wohltätigkeit verantwortlich waren, sondern auch die Einkommenssituation der einzelnen Landvogtei und deren Nähe zum Zentrum Bern.
Eine staatswirtschaftlich tragbare Armenfürsorge zu schaffen, blieb während des ganzen 18. Jahrhunderts ein äusserst schwierig umzusetzender Grundsatz der bernischen Obrigkeit. Trotz wiederholter Ermahnungen an die Landvögte, ihre Unterstützungsempfehlungen zu drosseln, konnte die Almosenkammer den massiven Anstieg der Staatsausgaben zur Armenversorgung auf der Landschaft, die weit höhere Zuwachsraten verzeichneten als die Leitzahlen der Staatseinnahmen, nicht verhindern. Der Bedarf einer Lastensenkung oder zumindest einer Stabilisierung der Kostenentwicklung war damit gegeben. Diesen Anforderungen versuchte die Almosenkammer mit einer doppelten Strategie nachzukommen, indem sie die primäre Verantwortung der Gemeinden zur Armenfürsorge betonte und gleichzeitig ihre eigene Beitragspolitik änderte. Die einzelnen Beiträge an die Bedürftigen wurden stark gekürzt, was ihrem Charakter eines subsidiären Zuschusses zusätzlichen Nachdruck verlieh. Die durch steigende Bedürftigenzahlen und die Territorialisierung der staatlichen Armenfürsorge bedingte Rationalisierung und Standardisierung im Laufe des 18. Jahrhunderts kam somit zwar einer grösseren Zahl von Bedürftigen zugute, war für den einzelnen jedoch mit einer sinkenden Attraktivität der staatlichen Hilfe verbunden.
Viele Gemeinden auf der bernischen Landschaft zˆgerten den Aufbau und die Verwaltung eines Armengutes, wozu sie spätestens seit Ende des 17. Jahrhunderts gesetzlich verpflichtet waren, bis weit ins 18. Jahrhundert hinaus. Vielerorts wurde der Auftrag zur Einziehung regelmässiger Armensteuern und zur stetigen ƒufnung eines Armengutes aus prinzipiellen Erwägungen als unerwünschter Eingriff in die Gemeinderechte empfunden. Oft taten sich die Landgemeinden aber auch einfach schwer mit der neuen administrativen Aufgabe, die von den Verantwortlichen ausreichende Schreib- und Rechenkünste verlangte. Dazu gesellten sich Befürchtungen, dass eine Monetarisierung der Armenfürsorge zur Anonymisierung der Nächstenliebe führe, hatten doch bisher die Abgabe von Getreide- und anderen Naturalspenden an Bedürftige der Nachbarschaft oder deren Versorgung mit Kost und Logis während weniger Tage im Umgang oder während mehrerer Monate bis Jahre im Verding den karitativen Aspekt der Armenfürsorge als Akt der Nächstenliebe jedes Einzelnen betont.
Aufgrund der Bemühungen jeder Gemeinde die Zahl der Unterstützungsbedürftigen auf einem kostenertr‰glichen Niveau zu halten, kam es zu einer äusserst engen Verzahnung von F¸rsorgeanspruch und Burgerrecht. Denn anders als in der Literatur bisher angenommen, existierte dank des staatlichen Drucks der Anspruch jedes Burgers auf Unterstützung durch seine Heimatgemeinde faktisch bereits vor seiner normativen Festlegung in der Armenverordnung von 1807. Dies erklärt, weshalb sich die Gemeinden möglichst all derjenigen Bedürftigen zu entledigen versuchten, deren Zugehörigkeit zur Burgergemeinde aus ihrer Sicht umstritten war.
Die Studie kommt letztlich auch zu einer kritischen Hinterfragung des Nutzens der momentan laufenden Forschungsdebatten rund um das Konzept der Sozialdisziplinierung, die sich zur Erkl‰rung der Rationalisierung und Bürokratisierung der bernischen Armenfürsorge im 18. Jahrhundert als wenig ergiebig erweisen. Die landesweite Durchsetzung einer auf neuen Verwaltungs- und Finanzierungsgrundsützen beruhenden kommunalen Armenfürsorge erfolgte weniger dank staatlichen Zwangs- und Disziplinierungsmassnahmen, als vielmehr auf der Basis einer Kooperation zwischen Staat- und Landgemeinden. In diesem Sinne war die Weiterentwicklung der bernischen Armenfürsorge ein Prozess, an dem staatliche Obrigkeit und Untertanen gleichermassen teil hatten. Sie stand zudem trotz des Weiterbestehens traditioneller Elemente der Armenfürsorge im Zeichen einer Modernisierung in Richtung einer eigentlichen Armenverwaltung.