Ein Jahrhundert Zucker gegen Saccharin. Die künstlichen Süssstoffe im Spannungsfeld von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft

AutorIn Name
Christoph
Merki
Academic writing genre
PhD thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Judit
Garamvölgyi
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
1990/1991
Abstract

Das Thema meiner Dissertation - die Geschichte der spannungsreichen Beziehung zwischen einem "künstlichen· und einem "natürlichen" Süssungsmittel - lässt sich innerhalb der historischen Forschung nur schwer situieren, geschweige denn als Ganzes irgendeiner aktuellen wissenschaftlichen Kontroverse zuordnen. Es lebt von der Opposition zweier Produkte und von den Komplikationen, die sich daraus auf sozialem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet ergeben. Meine Studie versucht also, Mikrohistorie als erkenntnisförderndes Element von Makrohistorie fruchtbar zu machen und damit eine Forderung einzulösen, die in letzter Zeit des öftern von den Theoretikern unseres Fachs erhoben worden ist. Dass für ein solches Vorhaben ein Thema aus der Ernährungsgeschichte besonders gut geeignet ist, leuchtet ein, wenn man daran denkt, dass gerade die Ernährung mit fast allen Lebensbereichen zusammenhängt: Soziokulturelle Handlungsmuster, die einer geisteswissenschaftlichen Analyse offenstehen, spielen nicht nur bei der Produktion der Nahrungsmittel eine wichtige Rolle, sondern auch bei ihrer Verteilung und Vermarktung, ihrer Zubereitung und ihrem Verzehr. Es versteht sich von selbs, dass die gewählte Fragestellung nur interdisziplinär, d.h. durch die Vernetzung von soziologischen, volkskundlichen, ökonomischen und politologischen Methoden und Theorien angemessen behandelt werden kann.

Seit der Jahrtausendwende in Europa bekannt, diente der Zucker zuerst als Heilmittel, bevor er als Gewürz in der herrschaftlichen Küche Eingang fand. Während Jahrhunderten war er eine Kostbarkeit, die einer dünnen Schicht Begüterter vorbehalten blieb und die für das Profilierungsstreben der höfischen Gesellschaft bedeutend war. Getragen von einer starken funktionalen und sozialen Ausweitung, wurde aus dem luxuriösen Genussmittel allmählich ein mehr oder weniger gewöhnliches Nahrungsmittel, das heute als "Suchtmittel" diffamiert und für alle möglichen Zivilisationskrankheiten verantwortlich gemacht werden kann. Seine Exklusivität verlor der Zucker jedoch erst, als die einheimische Zuckerrübe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem kolonialen Zuckerrohr zu konkurrieren begann und die Preise in der Folge zerfielen.

550mal so süss wie Zucker, ·hat das Kohlenwasserstoff-Derivat Saccharin den umgekehrten Weg hinter sich. 1878 vom deutschen Zuckerchemiker Fahlberg zufällig entdeckt, kam der Pionier der künstlichen Süssstoffe neun Jahre später auf den Markt - zunächst als Diätetikum, später als Zusatzstoff in verschiedenen Lebensmittelindustrien. Nachdem sein Preis infolge einer erbitterten Konkurrenz drastisch gefallen war und die Preise des Zuckers sich gleichzeitig von einer längeren Baisse erholt hatten, erlebte das Saccharin den Durchbruch als "Zucker der armen Leute". Im Deutschen Reich wurden 1902 fast 200 Tonnen verbraucht, was mehr als 10 Prozent des damaligen Zuckerkonsums entsprach. Erfolg hatte das Saccharin vor allem dort, wo der Zucker seinen luxuriösen Charakter noch nicht ganz eingebüsst hatte: in ländlichen Gebieten eher als in der Stadt und - entsprechend dem lndustrialisierungsgefälle - im östlichen Europa eher als im westliehen. Sozial aufgewertet, werden die Süssstoffe heute nicht mehr verwendet, obwohl sie keinen Nährwert haben, sondern weil sie keinen haben. Aus dem billigen Surrogat für ·arme Schlucker" wurde in wenigen Jahrzehnten ein Süssungsmittel für fitnessbewusste Wohlstandsbürgerinnnen und -bürger. War der Zucker in der industrialisierten Welt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts - teilweise auch darüber hinaus (z.B. im Zweiten Weltkrieg oder in Osteuropa) - ein vorzüglicher Indikator für Wohlstand, trugen das Saccharin und die Leute, die es zu sich nehmen mussten, das Stigma der Armut. Inzwischen hat sich das Verhältnis zwischen den beiden Süssungsmitteln in sein Gegenteil verkehrt.

Zucker und Saccharin sind aber nicht nur sozialgeschichtlich interessant, sie stehen auch wirtschafts- und politikgeschichtlich in einer spannungsreichen Beziehung zueinander. Die Prozesse, die aus dieser Konstellation resultieren, weisen weit über den scheinbar engen Konflikt zwischen einem Produkt der chemischen Industrie und einem Produkt der Landwirtschaft hinaus. Obwohl ihn die Gesundheitsämter für toxikologisch unbedenklich erklärten, wurde der Süssstoff schon um 1900 in den meisten europäischen Staaten aus dem Verkehr gezogen. Nur noch Personen, die den Zucker aus medizinischen Gründen meiden mussten, durften das zum Diätetikum gestempelte Saccharin in der Apotheke beziehen. Initiiert worden war diese repressive, ja prohibitive Gesetzgebung von der Rübenzuckerindustrie. Ihr politischer Einfluss gründete auf dem wirtschaftlichen Gewicht, das sie besass und das von der Wirtschaftsgeschichte bislang kaum zur Kenntnis genommen worden ist. Sowohl in Oesterreich-Ungarn wie in Deutschland - sie stehen im Zentrum meiner Abhandlung - belegte der Zucker am Ende des letzten Jahrhunderts in der Aussenhandelsbilanz Platz 1, und die dynamische Prosperität der Zuckerindustrie hatte nicht nur für viele vor- und nachgelagerte Industrien einen positiven Effekt, sie löste auch in der Landwirtschaft einen kräftigen Modernisierungsschub aus. Die Süssstoffgesetze waren aber nur deshalb möglich, weil auch der Staat nicht nur als Adressat von pressure auftrat. Vor allem dem Fiskus lag viel am Wohlergehen der Zuckerindustrie und an der von ihr entrichteten Steuer, die vor 1914 in mehreren Ländern Kontinentaleuropas fünf bis zehn Prozent aller Staatseinnahmen eintrug. Im Deutschen Reich waren die Beziehungen zwischen der Bürokratie und der Zuckerindustrie sogar so eng, dass bald das böse Wort vom "preussisch-deutschen Zuckerrübenstaar entstand. Zweifellos spielten bei den deutschen Süssstoffgesetzen von 1898 und 1902 auch gesundheitspolitische Ueberlegungen eine gewisse Rolle, so die Absicht, die Konsumenten vor Lebensmittelfälschungen zu schützen. Im Vordergrund standen aber immer wirtschafts- und finanzpolitische Motive. Als 1902 die Brüsseler Zuckerkonvention beschlossen wurde, spielte die Zuckerpolitik ganz direkt in die Süssstoffpolitik hinein: Die Zuckerindustrie verknüpfte die Annahme des supranationalen Abkommens, das sie wieder stärker auf den Inlandsmarkt verwies, mit der "Rezeptpflichr für Saccharin zu einem Junktim. Letztlich hatte die Süssstoffgesetzgebung den Zweck, die verbraucherfeindliche Preispolitik abzusichern, die die Zuckerindustrie, Hand in Hand mit dem Fiskus, betrieb. Es ist allerdings zweifelhaft, ob der Staat wirklich zu den Gewinnern dieser Ausnahmegesetzgebung gehörte. Einen indirekten Nutzen in Form gestiegener Zuckersteuererträge nachzuweisen, ist unmöglich; und zur Entschädigung der Süssstoff-Fabriken, die der Staat auf sich nehmen musste, kam der Widerstand, den die Konsumentinnen und Konsumenten leisteten - der illegale Konsum.

Dort, wo der Zucker noch nicht zu einem gewöhnlichen Süssungsmittel geworden war, konnte selbst ein drakonisches Gesetz das Saccharin nicht in ein blosses Diätetikum zurückverwandeln: Es blieb trotz preissteigerndem Schmuggel und "geheimer Fabrikation· eine Alternative, die auf schwarzen und grauen Märkten reissenden Absatz fand. Zur Operationsbasis der Schmugglerinnen und Schmuggler wurde die Schweiz, in der das in Basel produzierte Saccharin frei erhältlich war und von der aus es, dem lndustrialisierungsgefälle entsprechend, Richtung Osten ging. Allein in Zürich, der Hochburg des Schmuggels, wohnten nach amtlichen Angaben 1912 über tausend professionelle Dealer. Auf Anregung der Zuckerindustrie bildete die Polizei spezielle Dezernate, die den Schmuggel aber kaum eindämmen konnten. Die verstärkte Repression trug im Gegenteil dazu bei, dass sich auf dem illegalen Markt professionelle Strukturen herausbildeten.

Als Reaktion auf den illegalen Konsum kamen um 1907 Bestrebungen in Gang, den Süssstoffverkehr einer internationalen Kontrolle zu unterstellen. Treibende Kraft der Bewegung war Russland, das mit seiner hohen Zuckersteuer und seinem bescheidenen Zuckerkonsum besonders stark vom Süssstoffschmuggel betroffen war. Aus Furcht vor Pressionen ihrer zuckerrübenproduzierenden Nachbarn sah sich auch die Schweiz gezwungen, an den internationalen Konferenzen von 1909 und 1913 in Paris teilzunehmen. Am 16. April 1914 unterzeichneten acht Staaten die Internationale Konvention über die Reglementierung des Saccharins, ein Abkommen, das sie unter anderem dazu verpflichtet hätte, den Handel mit Süssstoffen peinlich genau zu überwachen. Auch wenn es nie in Kraft getreten ist, stellt dieses Abkommen einen für die damalige Zeit einmaligen supranationalen Eingriff in die Gewerbefreiheit dar, der sich allenfalls noch mit der Opiumkonvention von 1912 vergleichen liesse, die ähnliche Kontrollen empfahl. Doch während der Kreuzzug gegen das Opium gesundheitspolitisch motiviert und sozialmedizinisch einigermassen verständlich war, wurden die Süssstoffe praktisch ausschliesslich aus protek1ionistischen Gründen verfolgt.

Auf die Darstellung weiterer Ergebnisse muss hier verzichtet werden. So beschäftigt sich ein Kapitel mit den medizinischen Vorbehalten gegenüber dem Saccharin (die in der frühen Süssstoffpolitik nur eine marginale Rolle spielten) und mit der Frage, weshalb das Saccharin - abgesehen vom Tabak - epidemiologisch so gut untersucht ist wie kein Lebensmittel sonst.

Bei der Geschichte der Süssstoffe handelt es sich über weite Strecken um terra incognita, und die wenigen, die sich bisher in dieses Gebiet vorgewagt haben, sind keine Historiker, sondern Angehörige anderer Disziplinen. Das Schriftgut, auf dem die Dissertation beruht, wird in mehreren Dutzend Archiven und Bibliotheken verschiedener Länder aufbewahrt, so im Zucker-Museum in Berlin, im Oesterreichischen Staatsarchiv oder im Werkarchiv der Sandoz in Basel. Die Recher­ chen und ein Studienaufenthalt in Münster wurden durch den Nationalfonds finanziert.

 

 

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