«Talmudsknochen» und «Ziginergelüste». Johann Heinrich Pestalozzis Bild der Juden und «Zigeuner»

AutorIn Name
Severin
Strasky
Academic writing genre
Licenciate thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Brigitte
Studer
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2003/2004
Abstract

Die Studie beschäftigt sich anhand eines biographischen Fallbeispiels mit einigen „Schattenseiten“ der Aufklärung. Zeitgenössische Tendenzen zielten auf die Schaffung und Konsolidierung einer egalitären Gesellschaft mündiger Bürger im Zeichen von Gemeinnützigkeit, Sittlichkeit und Fortschritt, wobei diese Gleichheit jedoch oft nur in engen Grenzen vertreten wurde und bestimmte Gruppen als nicht konform ausgegrenzt wurden.

 

Die Untersuchung beschäftigt sich mit dem Schweizer Pädagogen, Schriftsteller und Sozialreformer Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) und stellt die Frage nach der Bedeutung der Begriffe „Jude“ und „Zigeuner“ in seinen Schriften. Welchen Stellenwert nehmen diese beiden Bezeichnungen in Pestalozzis Verständnis von Religion, Geschichtsphilosophie, Anthropologie, Gesellschaft und Staat ein? Die Fragestellung wird historisch kontextualisiert und mit Debatten der neueren Antisemitismus- und Antiziganismus- Forschung verknüpft. So wird die Frage erörtert, ob sich in den Schriften Pestalozzis der für die Aufklärungszeit und das frühe 19. Jahrhundert typische Übergang vom christlichen Antijudaismus zu einer zunehmend säkular argumentierenden Judenfeindschaft erkennen lässt oder ob Pestalozzi vornehmlich vom traditionellen christlichen Antijudaismus geprägt bleibt. Eine ähnliche Frage stellt sich bezüglich des Begriffs „Zigeuner“, worunter Pestalozzi unterschiedliche Gruppen wie Roma, Sinti, Jenische, aber auch generell Nichtsesshafte versteht. Verbindet sich der Begriff „Zigeuner“ bei Pestalozzi mit der durch die Entdeckung überseeischer Völker eingeleiteten Naturzustands- und „Rassen“-Diskussion, oder ist der Begriff „Zigeuner“ bei Pestalozzi eher als ordnungspolitische Etikettierung zu verstehen?

 

Nach der Einführung in die Rahmenbedingungen, den Forschungsstand und den gewählten Ansatz (Problematisierung von Biographik und Geistesgeschichte) nähert sich die Studie Pestalozzis Bild des Judentums aus verschiedenen Perspektiven. So wird die Frage gestellt nach der Bedeutung der Juden in Pestalozzis Religionsverständnis, in seiner Geschichtsphilosophie sowie in seinem Verständnis von Gesellschaft und Staat. Anschliessend wird unter ähnlicher Fragestellung Pestalozzis Bild der „Zigeuner“ rekonstruiert. Schliesslich wird nach Erklärungsansätzen für Pestalozzis Ablehnung von Juden und „Zigeunern“ gesucht und dessen Haltung im zeitgenössischen Diskurs kontextualisiert.

 

Die Arbeit belegt, dass sich bei Pestalozzi keine Ansätze einer säkular oder gar „rassisch“ geprägten Judenfeindschaft finden lassen. Vielmehr scheint Pestalozzi noch stark im traditionellen christlichen Antijudaismus verankert zu sein. Auch bezüglich der Einschätzung der „Zigeuner“ durch Pestalozzi lässt sich kein „rassisch“ geprägtes Argumentationsmuster erkennen. Die Untersuchung zeigt, dass Juden und „Zigeuner“ in Pestalozzis Schriften als für die Aufklärungsgesellschaft nicht konforme Lebensweisen ausgegrenzt werden. Der Begriff „Zigeuner“ bildet bei Pestalozzi eine sozialpolitische Ordnungskategorie im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft, wobei „Zigeuner“ den Gegenpol zum „neuen Bürger“ (republikanischer Tugenddiskurs) repräsentieren. Pestalozzis sozialphilosophische Einschätzung der „Zigeuner“ ist untrennbar verknüpft mit seinen geschichtsphilosophisch-anthropologischen Überlegungen, wobei „Zigeuner“ einen „verdorbenen Naturzustand“ und dadurch das generell „Unsittliche“ repräsentieren. Auch Pestalozzis Einschätzung des Judentums hängt mit seinem Gesellschaftsbild und seinen Sittlichkeitsvorstellungen zusammen, denen Pestalozzi Bilder wie den „Hofjuden“ oder den jüdischen Viehhändler entgegenstellt. Bei der Beantwortung der Frage nach Pestalozzis Judenfeindlichkeit muss sorgfältig differenziert werden. So ist zu unterscheiden zwischen Vorwürfen an das biblische Judentum und denjenigen an zeitgenössische Juden. Ebenfalls sind Pestalozzis teilweise vehement antijüdischen Äusserungen zu relativieren durch den Hinweis auf seinen Respekt vor den jüdischen Lehrern an seinem „Institut“ sowie auf seine hohe Einschätzung der „mosaischen Gesetzgebung“ und der Armenversorgung in jüdischen Gemeinden. Auch ist ausdrücklich auf Pestalozzis Befürwortung der jüdischen Emanzipation hinzuweisen. Diese zwischen Würdigung und Ablehnung schwankende Beurteilung des Judentums durch Pestalozzi wird historisch kontextualisiert und zeigt sich als symptomatisch für die Aufklärungszeit.

 

Alterität gestattet Selbstidentifikation. In diesem Sinne werden die Quellentermini „Jude“ und „Zigeuner“ in dieser Untersuchung als „konstruktive Gegenbegriffe“ verstanden, als Gegenbilder, die der Durchsetzung und Konsolidierung des pädagogischen Programms Pestalozzis sowie seiner Vorstellungen von Gemeinschaft und Gesellschaft dienten – Identitätsstiftung via negationis.

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