In den Morgenstunden des 23. Januar 1940 erlosch in Bern das Leben von Bundesrat Giuseppe Motta. Die Zeitgenossen waren sich in ihrem Urteil einig: ein grosser Staatsmann war gestorben. Seine politische Karriere war steil und von Geradlinigkeit geprägt gewesen: in rascher Abfolge durchlief er das Curriculum vom Grossen Rat des Kantons Tessin zum kantonalen Parteipräsidenten und zum Nationalrat, um mit gerade mal 40 Jahren zum Bundesrat gewählt zu werden. Dieses Amt hielt er für 28 Jahre inne und prägte in seinen 20 Jahren als Vorsteher des Politischen Departements die Schweizerische Aussenpolitik der Zwischenkriegsjahre massgeblich. Die Gründe für diesen kometenhaften Aufstieg ortete man bereits zu Lebzeiten Mottas neben dessen Begabung in seiner Herkunft. Über seinen Tod hinweg hielten sich bis in unsere Tage die Topoi der bescheidenen sozialen Herkunft aus einem kleinen Bergdorf und die Verankerung Mottas in allen kulturellen und sozialen Gruppen der Schweiz.
Die Lizentitatsarbeit stellt die Frage nach den die politische Karriere begünstigenden Faktoren aus der Kindheitsund Jugendzeit. Die Arbeit geht von der Hypothese aus, dass eine massgebende Quelle einerseits in der familiären Herkunft und andererseits im sozialen Netzwerk des Studenten zu suchen ist. Zur Beantwortung der Fragestellung kamen zwei Konzepte aus der Soziologie zur Anwendung, nämlich jenes des Sozialkapitals und das der Netzwerkanalyse.
Der Analysezeitraum umfasst die ersten 24 Lebensjahre des späteren Bundesrates. Dabei wird zuerst auf die soziale und ökonomische Stellung seiner Familie im Geburtsort Airolo eingegangen. In der Folge werden das soziale Umfeld und der Aufbau eines sozialen Netzwerkes in den einzelnen Gymnasialund Hochschulbildungsstätten Ascona, Freiburg, München und Heidelberg untersucht.
Die Quellenanalyse ermöglichte es, einige der tradierten Topoi abzubauen. Weder stammte Giuseppe Motta aus einem kleinen alpinen Dorf, noch aus bescheidenen Verhältnissen. Der Heimatort Airolo war bereits vor Mottas Geburt aufgrund des Transportund Gastgewerbes von beachtlicher ökonomischer Bedeutung. Giuseppes Eltern und Vorfahren dominierten als Verantwortliche für den Postkutschentransport über den Gotthard und als Inhaber mehrerer vornehmer Hotels das wirtschaftliche und politische Geschehen in Airolo mit Einflüssen auf die ganze Leventina. Die Eröffnung des Gotthardeisenbahntunnels vermochte dem keinen Abbruch zu tun, im Gegenteil, es zeigt sich, dass die Familie Motta sich den neuen ökonomischen Rahmenbedingungen anpassen und daraus Gewinn erwirtschaften konnte.
Die familiäre Sozialisation schuf das Grundraster für das gesellschaftliche Leben und das Umfeld des jungen Studenten. Motta war fest in der italienischsprachigen, katholischen und politisch konservativen Kultur verankert. Dieses kulturelle Umfeld hat er während der ganzen Studienzeit fast nie verlassen, obwohl er an einzelnen Bildungsstätten kulturell stark in die Minderheit gedrängt war. Konnte die familiäre Sozialisation in sprachlicher oder konfessioneller Hinsicht teils durchbrochen werden, so war dies hinsichtlich der politischen Sozialisation ausgeschlossen. Er wuchs in einem von heftigen politischen Auseinandersetzungen gezeichneten Kanton auf. Seine Familie war über Generationen in politische Querelen verwickelt, wodurch der Politik im Alltag ein hoher Stellenwert zukam und Giuseppe Mottas politische Ansichten früh gefestigt wurden. Der Student grenzt sich nicht nur stark von den historischen Feinden – den Liberalen und Radikalen – ab, sondern mit gleich grosser Schärfe von der innerparteilichen Richtung der Klerikal-Konservativen. Fand Motta während seines Studiums das ihm entsprechende politische Umfeld nicht, so zog er es vor, ein zurückgezogenes und zeitweilen selbst von ihm als einsam empfundenes Leben zu führen.
Das familiär bedingte und selber erworbene Sozialkapital von Giuseppe Motta am Ende der Studien zeit erreichte beträchtliche Ausmasse. Die Familie generierte ihr Sozialkapital hauptsächlich durch ihre überregionale, die Sprachgrenzen durchbrechende und wirtschaftlich strategische Heiratspolitik, die lokale politische Dominanz, die generationenübergreifende Vertretung in kantonalen und nationalen Räten, sowie dank der familieneigenen Hotels als Treffpunkte der Elite.
Ausgehend von den vorhandenen Quellen wurde das von Giuseppe Motta während der Ausbildungsjahre aufgebaute Netzwerk rekonstruiert. Dieses umfasst mit gut 450 Personen, darunter etlichen zukünftigen politische Entscheidungsträgern, ein wertvolles potentielles Reservoir für den späteren Aufstieg und die Tätigkeit des Politikers Motta. Ein grosser Teil der Kontakte ergaben sich aus der Mitgliedschaft im Schweizerischen Studentenverein (StV). Der hohe Organisationsgrad des Verbindungslebens und der schweizweite Austausch unter den Vereinsmitgliedern machten den StV für Motta zu einer immensen Quelle von Sozialkapital. Die persönliche Nutzung des StVNetzwerks setzte zudem keinen überdurchschnittlichen Einsatz voraus. Giuseppe Motta hatte zwar während zweier Jahre Einsitz in Führungsämtern des StVs. Die Quellen zeigen jedoch, dass er weder in dieser späten Studienphase, noch früher je ein überdurchschnittliches Engagement im StV an den Tag gelegt hat.
Ein zusammenfassender Artikel wird im Bollettino storico della Svizzera Italiana 113 (2010) erscheinen.
„L‘avvocatino d‘Airolo che diventerà presto un avvocatone“ Die Kindheits-, Jugend- und Studienjahre von Bundesrat Giuseppe Motta (1871-1895)
Academic writing genre
Licenciate thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Brigitte
Studer
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2008/2009
Abstract