Verkehrspolitik im Mittelalter? Bernische und Walliser Akteure, Netzwerke und Strategien als Gradmesser einer grundsätzlichen Evaluierung

AutorIn Name
Marie-Claude
Schöpfer Pfaffen
Academic writing genre
PhD thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Rainer C.
Schwinges
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2008/2009
Abstract


Die Dissertation behandelt ein Thema, das nicht gerade im Mainstream der mediävistischen Historiographie steht. Von Sammelbänden abgesehen fehlt es seit langem an umfassender monographischer Darstellung grösserer regionaler, überregionaler und lokaler Zusammenhänge. Die Gründe für dieses Forschungsdesiderat liegen wohl in der schwer zu erschliessenden Quellenlage, der nicht vernachlässigbaren Verlinkung mit zahlreichen historischen Subund Nachbardisziplinen sowie dem hohen Grad an Komplexität von Verkehrssystemen als Zielobjekten der historischen Forschung. Unter Berücksichtigung dieser Ausgangslage aufzuzeigen, dass sich die mittelalterlichen Jahrhunderte verkehrstechnisch betrachtet nicht nur durch Statik und Rückschritt auszeichneten und durchaus eine facettenreiche Organisation des Strassenund Verkehrswesens kannten, bildete das Hauptziel der vorliegenden Studie.

Die Untersuchung analysiert unter Berücksichtigung der zentralen Vorbedingungen von Naturraum und Klima, Herrschaftsgeflechten und Wirtschaftsgefüge sowie der verfassungsrechtlichen und politisch-praktischen Konstellationen auf Reichsebene die massgeblichen Parameter – Akteure, Objekte und Massnahmen – einer postulierten hochmittelalterlichen bis frühneuzeitlichen Verkehrsorganisation in den Territorien der heutigen Kantone Bern und Wallis. Als operable Basis der komparativ angelegten Studie dient eine – auf Forschungsebene noch ausstehende – umschreibende Definition eines möglichen Systems mittelalterlicher Verkehrspolitik. Im Zentrum der anschliessenden regionalen Fallanalysen stehen als Hauptakteure die das Erbe der Zähringer antretende Stadt Bern, die Bischöfe von Sitten als weltliche Herrscher über das Oberwallis, die mit ihm konkurrierenden Grafen und nachmaligen Herzöge von Savoyen sowie der Walliser Landrat, der sich ab dem späten Mittelalter allmählich als politisches Organ der Landschaft etablierte. Daneben betätigten sich mit – zum Teil „kantons übergreifend“ – passbeherrschenden Adelsgeschlechtern, Talschaften, Gemeinden, Städten und den so genannten Zenden, den für den Alpenraum wichtigen Transportorganisationen sowie den als externe Komponente Einfluss nehmenden Kräften aus dem Wirtschaftsgefüge Instanzen regionalen und lokalen Ranges im verkehrspolitischen Sektor der beiden Untersuchungsgebiete.

Von der allgemeinen „Entdeckung der Strasse“ im 12. Jahrhundert bis zur „Kommunikationsrevolution“ im 16. Jahrhundert haben sich generell unterschiedliche Entwicklungslinien in der Ausformung verkehrspolitischer Aktionsfelder und Grundtypen feststellen lassen. Während im Wallis der europäische Transitverkehr bereits ab dem hohen Mittelalter massive Rückwirkungen auf die bischöflichsavoyische Verkehrsorganisation zeitigte, spielten im bernischen Herrschaftsgebiet überregionale wirtschaftliche Einflüsse erst mit dem handelspolitischen Aufstreben der süddeutschen Städte eine vergleichbare Rolle. Dagegen kann in der Walliser Verkehrsorganisation des Mittelalters keine Verschmelzung von Territorialund Verkehrspolitik, wie sie bernischen Obrigkeiten in der Phase der Herrschaftsintensivierung über die erworbenen Gebiete praktizierten, festgestellt werden. Mit diesem Befund korrespondiert, dass sich im Wallis während des gesamten Untersuchungszeitraums nie ein mit der Stadt Bern vergleichbares machtpolitisches Zentrum ausbilden konnte. Generell wurde damit die Verkehrspolitik der Aarestadt sowohl von administrativen, fiskalischen, machtund territorialpolitischen, als auch von wirtschaftlichen Motiven geformt, wobei der Anteil der jeweiligen Komponenten zeitlich und regional variierte. Im Wallis scheint dagegen die stark handelsorientierte Verkehrspolitik des bischöflichen Landesherrn und der sekundären Akteure – obschon auch hier alle aufgeführten Grundmotivationen vorhanden waren – tief mit den wirtschaftlichen Abläufen verknüpft gewesen zu sein. In der Nachverfolgung dieser Grundmuster unterlag die Strassenund Verkehrsorganisation der stadtbernischen Herrschaftsgebiete ab dem späten Mittelalter einem Zentralisierungsprozess, der sich etwa in der Formierung eines eigens für das Verkehrssystem zuständigen, mit personellen Ressourcen ausgestatteten Institutionenkomplexes manifestierte, während im Wallis die verkehrspolitischen Kompetenzfelder – trotz vorhandener zentraler, legitimierender Instanzen – vor allem aufgrund dezentralisierender Tendenzen im Machtgefüge noch nicht ausgelotet waren. Ausdruck fanden diese abweichenden Ausformungen der verkehrspolitischen Verantwortlichkeitsbereiche auf der einen Seite im radial von der Zentrale Bern ausstrahlenden Strassensystem, auf der anderen im desolaten Zustand des Walliser Verkehrsnetzes der Frühen Neuzeit, das verstärkt von den partikulären Kräften (Gemeinden und Zenden) kontrolliert wurde.

Diese, für den regionalen Rahmen gewonnenen Parameter wurden abschliessend instrumentalisiert, um die der Dissertation zugrundeliegende Kernfrage zu beantworten, ob im Mittelalter prinzipiell ein dauerhaftes System von Zuständigkeiten für das Verkehrsnetz – eine Verkehrspolitik per definitionem – existierte. Grundsätzlich hat die Studie erwiesen, dass die Struktur des mittelalterlichen Territorialstaats eine systematische, auf flächenhafte Wirkung berechnete Verkehrspolitik zwar verhinderte, doch die unsystematische, eng mit anderen Interessen verknüpfte Förderung wirtschaftlicher Vorgänge mit Rücksicht auf das Wohlergehen der eigenen Untertanen nicht ausschloss. Ein System „Verkehrspolitik“ muss deshalb für einen globalen, kontinuierlichen und gebietsübergreifenden Rahmen verneint werden. Doch kann – wenn konkret die Aktivitäten mehrer Instanzen innerhalb eines Territoriums für einen bestimmten Zeitraum subsumiert werden oder wenn ein Akteur, begünstigt durch interne und externe Faktoren, verschiedenste Kompetenzen dauerhaft auf sich vereinigte – auch für das Mittelalter eine umfassendere Verkehrspolitik postuliert werden, wie die regionalen Fallanalysen exemplarisch nachweisen konnten. Darüber hinaus nahm im späten Mittelalter generell die Systemhaftigkeit verkehrspolitischer Massnahmen durch die klare Festschreibung von Kompetenzen und Institutionalisierungstendenzen zu.

In summa demonstriert die mittelalterliche Verkehrspolitik das geregelte Funktionieren des zeitgenössischen, personal organisierten Herrschaftsverbandes sowie ein auf dem Regionalismus basierendes politisches Gefüge, das völlig quersteht zur modernen, überstaatlichen „Europäisierung“ des Alpenraums. Eindeutig als widerlegt erweist sich durch die vorliegende Studie das vielerorts vermittelte negative Bild des vormodernen Verkehrswesens; schenkten doch die politischen, wirtschaftlichen und bisweilen auch die geistlichen Instanzen dem Verkehrsgefüge, dessen Reglementierung und Organisation sowie den verbundenen sachlichen, personellen und institutionellen Parametern auf überregionaler, regionaler und lokaler Ebene Aufmerksamkeit – wenn auch in unterschiedlicher Intensität und Kontinuität.

Resultate dieser Forschungen sind bereits als Aufsatz präsentiert worden: „Verkehrspolitik im Mittelalter? Bernische und Walliser Akteure als Gradmesser einer grundsätzlichen Evaluierung“, in: Christoph Maria Merki, Hans Ulrich Schiedt et al., Verkehrsgeschichte – Histoire des Transports (Schweizerische Gesellschaft für Wirtschaftsund Sozialgeschichte, Bd. 24), Zürich 2009, im Druck. Die Dissertation wird voraussichtlich im Verlauf des nächsten Jahres publiziert.

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