Wer Mitte der 1770er Jahre den botanischen Garten der Naturforschenden Gesellschaft Zürich besuchte, konnte hunderte Pflanzen aus verschiedenen Regionen der Welt bestaunen, welche die botanisch interessierten Mitglieder dieser Sozietät zusammengetragen, ausgesät und zum Blühen gebracht hatten. Zudem konnten Interessierte das Herbarium besichtigen, das Johannes Gessner (1709–1790), der Präsident der Naturforschenden Gesellschaft, angelegt hatte. Beide Pflanzensammlungen – der Garten und das Herbarium – zeigen deutlich, dass sich Pflanzenliebhaber in Zürich während des 18. Jahrhunderts für die Flora weitentfernter Gegenden interessierten und es ihnen gelang, eine Vielzahl von Samen und getrockneten Pflanzen von überall her in die Limmatstadt zu holen.
Pflanzen standen im 18. Jahrhundert aufgrund ihrer nützlichen Eigenschaften im Interesse eines weiten Personenkreises. Dies haben Studien zu den botanischen Aktivitäten unter der Patronage europäischer Fürstenhöfe oder kolonialer Handelsgesellschaften gezeigt. Über die Beschäftigung mit Pflanzen ausserhalb imperialer oder kolonialer, universitärer und höfischer Kontexte ist hingegen wenig bekannt.
Ausgehend von diesem Befund untersucht die Studie Zürich – eine republikanische Stadt ohne Universität und kolonialen Einfluss – als Knotenpunkt in den transnationalen botanischen Netzwerken des 18. Jahrhunderts. Johannes Gessner, der 1746 zusammen mit anderen naturkundlich Interessierten die Naturforschende Gesellschaft Zürichgründete,derenHerbariumpflegteundsich um die Einrichtung des Gartens bemühte, dient dabei als Linse, um die Aktivitäten der Pflanzenliebhaber in der Limmatstadt und Zürichs Einbindung in die botanischen Netzwerke des 18. Jahrhunderts zu untersuchen. Dafür wurde ein mikrohistorischer Zugang gewählt. Die Studie „folgt“ den Pflanzen, die im Netzwerk des Zürcher Botanikers ausgetauscht und diskutiert wurden, sodass sämtliche Akteure ins Blickfeld geraten, welche Pflanzen suchten und anbauten, verschickten und
transportierten, über sie lasen und schrieben. Dabei stützt sich die Untersuchung überwiegend auf handschriftliches Quellenmaterial, das in Archiven in der Schweiz, Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien und den Niederlanden überliefert ist. Gessners Veröffentlichungen, seine Reisetagebücher und die noch erhaltenen Briefe an ihn wurden ebenso herangezogen wie UnterlagenderNaturforschendenGesellschaft,besonders die Transferlisten des Samentauschs, die Korrespondenz und die Rechnungen ihres botanischen Gartens. Tiefere Einblicke in die „science in the making“ erlaubte der für die posthume Versteigerung publizierte Katalog von Gessners Bibliothek, sein Notizbuch mit Exzerpten sowie das umfangreiche Herbarium.
Die Arbeit besteht aus drei empirischen Teilen, in denen anhand konkreter Pflanzen die botanischen Aktivitäten, der Aufbau des Netzwerks und der materielle Transfer von Wissen untersucht werden. Zunächst werden die botanischen Praktiken im Zürich des 18. Jahrhunderts in den Blick genommen. Genauer gesagt wird beleuchtet, in welchen Kontexten Pflanzenwissen vermittelt und diskutiert wurde. Gemeinsames Beobachten, das sich in den Sitzungsprotokollen der Naturforschenden Gesellschaft greifen lässt, war ebenso Bestandteil der botanischen Arbeit von Gessner und seinen Mitstreitern wie das Schreiben und Publizieren und das Herstellen botanischer Abbildungen. Johannes Gessner vermittelte die Klassifikation Carl von Linnés durch seine Schriften und liess darüber hinaus den Miniaturmaler und Kupferstecher Christian Gottlieb Geissler Pflanzenabbildungen anfertigen, die den Zugang zu dieser Klassifikationsmethode erleichtern sollten. Dabei waren die Interessen vielseitig: Alpenpflanzen wurden ebenso erforscht wie Gewächse aus Übersee. Als Nahrung oder Heilmittel einsetzbare Pflanzen interessierten genauso wie schön blühende, von denen kein Nutzen bekannt war. Im Zürich des 18. Jahrhunderts wurde die religiös inspirierte Beschäftigung mit Pflanzen mit ökonomischen Fragen verbunden und die ästhetische Dimension des Pflanzensammelns mit der Vermittlung von klassifikatorischem Wissen verknüpft. Die Analyse der lokalen Praktiken macht nicht nur deutlich, dass eine Vielzahl von Personen unterschiedlicher sozialer Herkunft – nicht zuletzt auch sämtliche Mitglieder von Gessners Haushalt – botanisch aktiv und an der Entstehung der Schriften und Bilder beteiligt war. Auch die translokalen Beziehungen, in welche die Zürcher botanischen Aktivitäten eingebettet waren, werden dadurch sichtbar.
Der Aufbau und die Pflege dieser Beziehungen – sowohl mit Einzelpersonen als auch mit Institutionen wie botanischen Gärten ausserhalb der Stadt – sind Gegenstand des zweiten Teils der Arbeit. Entscheidend für die Entwicklung des Netzwerks waren jene Kontakte, die Johannes Gessner auf seinen frühen Alpenreisen und während seiner Studienaufenthalte in Basel, Leiden und Paris knüpfte. Das enorme Interesse von Botanikern im Reich, den Niederlanden und Oberitalien an „Schweizerischen Bergpflanzen“, mit denen der Zürcher aufwarten konnte, erleichterte die Kontaktaufnahme. Dauerhaft gepflegt wurden die Beziehungen, weil ein gegenseitiges Interesse an immer neuem Pflanzenmaterial bestand. Um den Zugang zu weiteren seltenen Gewächsen zu sichern, wurden die persönlichen Korrespondenten von Johannes Gessner und anderen Zürcher Pflanzenliebhabern als Mitglieder in die Naturforschende Gesellschaft aufgenommen, was zudem eine Kontinuität des botanischen Austauschs auch über den Tod eines Korrespondenten hinaus ermöglichte. Dafür, dass die Pflanzen auch tatsächlich ihren Weg von und nach Zürich fanden, sorgten Textilkaufleute und Buchhändler.
Das dritte Kapitel des Hauptteils beleuchtet schliesslich diese konkreten Transfers von botanischer Literatur, von getrockneten Pflanzen sowie von Samen, die in diesen Netzwerken möglich waren. Dabei wird deutlich, dass es sich nicht um einen Austausch von Einzelexemplaren handelte. Vielmehr tauschten die Zürcher in grossem Umfang botanische Materialien mit Akteuren in der Alten Eidgenossenschaft und in Europa aus. Johannes Gessner besorgte sich hunderte Bücher und Zeitschriften. Das Herbarium füllte er mit getrockneten Spezimina aus den Schweizer Alpen, den Amerikas, aus Sibirien, Südafrika und Ostindien. Die Pflanzen hatte er auf Reisen selbst gesammelt, von seinen Korrespondenten erhalten oder durch den Ankauf von Herbarien verstorbener Botaniker erworben. Auch für den Garten gelang es den Zürcher Pflanzenliebhabern, wie eingangs gezeigt und anhand der Transferlisten erarbeitet, Samen aus den verschiedenen Weltregionen zu besorgen. Möglich war dies durch die Beziehungen zu fürstlichen und universitären Gärten sowie botanisch interessierten Privatpersonen und Handelsgärtnern in Europa. In den Briefen, welche die Transfers begleiteten, wurde der Transport der Samen und Bücher ebenso thematisiert, wie die Aufzucht der Pflanzen. Dabei wird deutlich, dass die beteiligten Akteure fortlaufend mit grossem Interesse daran arbeiteten, Pflanzen und Bücher zu erhalten und dass sie bereit waren, Zeit und Geld zu investieren. Der Austausch innerhalb der botanischen Netzwerke war somit keinesfalls ein Selbstläufer – weder für die Zürcher noch für andere Pflanzenliebhaber.
Zürich zeigt sich damit als einer von mehreren Knotenpunkten in den botanischen Netzwerken des 18. Jahrhunderts. Über Beziehungen zu Botanikern, die Zugang zu Pflanzen aus dem Einflussgebiet der niederländischen Ostindienkompagnie (VOC) hatten, gelang es den Zürchern, sich Zugang zu Spezimina aus weit entfernten Regionen zu beschaffen. Mit der Naturforschenden Gesellschaft entstand in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein Rahmen, in dem – auch ohne die Existenz einer Universität – ein botanischer Garten unterhalten werden konnte. Die Studie, deren Publikation als Monografie derzeit in Vorbereitung ist, leistet einen Beitrag zur Erforschung der Botanik abseits höfischer, universitärer und ökonomischer Zentren.