Mobilität während des Zweiten Weltkrieges. Ursachen für den Anstieg der räumlichen Mobilität in der Schweiz

AutorIn Name
Didier
Burgener
Academic writing genre
Master thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Gerlach
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2011/2012
Abstract

Der Erste Weltkrieg stellte für die Schweizer Eisenbahnen einen Tiefpunkt in ihrer Geschichte dar: Weil der Kohlepreis in die Höhe schoss, mussten einerseits die Fahrleistungen reduziert und anderseits die Beförderungspreise angepasst werden. Die unteren Bevölkerungsschichten konnten sich während und auch nach dem Krieg das Bahnfahren kaum mehr leisten, dies führte zu einem erheblichen Imageverlust für die Eisenbahnen. Ganz anders stellte sich jedoch die Situation während des Zweiten Weltkrieges dar: Dank der Elektrifizierung der meisten Eisenbahnlinien waren die Bahnen nicht mehr von externen Energielieferungen abhängig. Das Automobil, das in der Zwischenkriegszeit stark an Popularität gewann, stand dagegen wegen Treibstoff- und Pneumangels beinahe vollständig still. Trotz dieses Wegfalls stieg jedoch die räumliche Mobilität in der Schweiz während der Kriegsjahre in einem erheblichen Masse. Während 1938 mittels Zug, Automobil und Bussen rund 4.8 Mrd. Pkm zurückgelegt wurden, waren es im letzten Kriegsjahr fast 7 Mrd. Pkm. Diese wurden beinahe vollständig auf der Schiene geleistet, weil der Strassenverkehr mit jedem Jahr stärker gedrosselt werden musste. Dass die Mobilität in der Schweiz trotzdem stieg, lag hauptsächlich an vier Faktoren:
Der erste waren die Transporte von Soldaten. Die zwei Generalmobilmachungen der Armee sorgten für zusätzlichen Verkehr. Doch auch der allgemeine Truppenverkehr während des Krieges, zum Beispiel der Urlauberverkehr, liessen die Frequenzen auf der Schiene steigen. Privatbahnen im Gotthardmassiv, wie etwa die Furka-Oberalp-Bahn (FO), verzeichneten nach dem Rückzug der Armee ins Réduit Rekordergebnisse. Schweizweit umfasste der Militärverkehr jährlich etwa einen Fünftel der gesamten Mobilität und war damit ein gewichtiger Faktor für die Steigerung.

Die verbesserte Lage auf dem Arbeitsmarkt war der zweite Hauptgrund, weshalb es zu einer Mobilitätssteigerung kam. Nach der Abwertung des Schweizer Frankens im Jahre 1936 erholte sich die Schweizer Wirtschaft. So wurden mit jedem Jahr zusätzliche General- und Streckenabonnemente verkauft, weil sich etwa in der Industrie immer mehr Beschäftigungsmöglichkeiten auftaten. Da es in vielen Städten wegen der verminderten Bautätigkeit während der Weltwirtschaftskrise zu einem starken Wohnungsmangel kam, wurde die räumliche Trennung von Wohn- und Arbeitsort verstärkt. Dies sorgte für zusätzlichen Pendlerverkehr, der jedoch nicht nur auf den urbanen Raum beschränkt war. Auf dem Land kam es zu einem Strukturwandel und die Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten verringerte sich, was ebenfalls zur Steigerung der Arbeitsmobilität beitrug. Im Vergleich zur Vorkriegszeit waren zeitweise bis zu 250'000 Menschen zusätzlich in den Arbeits- prozess integriert.

Die gute Beschäftigungslage schlug sich auch im Freizeitreiseverkehr nieder. Grossen Bevölkerungsteilen war es während des Kriegs möglich, in die Ferien zu fahren oder zumindest Ausflüge zu unternehmen. Die Rationierung knapper Güter sorgte dafür, dass sich die Haushaltsbudgets der Schweizer auch trotz Versorgungsengpässen kaum veränderten. Damit war die ökonomische Grundlage für die Rekrutierung der „touristischen Reser- vearmee“ geschaffen, die den Ausfall der ausländischen Gäste beinahe vollständig kompensieren konnte. Die Schweizerische Zentrale für Verkehrsförderung (SZV) richtete ihr – eigentlich für das Ausland bestimmte – Budget vollends auf die Bevölkerung der Schweiz aus und selbst der Bundesrat und General Guisan liessen sich in die Propaganda einspannen. Zusätzlich wurde mit dem stark vergünstigten Ferienabonnement ein weiterer Anreiz geschaffen, um die krisengeschüttelte Hotellerie zu entlasten. Der rege Reiseverkehr während des Zweiten Weltkrieges hatte zur Folge, dass einzelne Privat- und Standseilbahnen in den Jahren 1944 und 1945 Rekordergebnisse erzielten.

Nicht zuletzt verzichteten die Eisenbahnen sehr lange auf Preiserhöhungen, weshalb die Mobilität in der Schweiz in Anbetracht der Kriegsinflation mit jedem Jahr günstiger wurde. Erst 1944 wurden die Fahrkartenpreise leicht erhöht, jedoch schloss diese Tarifanpassung nur die zusätzlichen Personalkosten der Bahnen mit ein. Während also die Preise für alle anderen Güter des Alltages sich früher oder später an die Inflation anpassten, blieben die Kosten für Zugfahrten sehr lange auf dem Vorkriegsniveau. Einerseits konnten die Bahnen sich dies dank der gesteigerten Beförderungszahlen (auch im Güterverkehr) leisten, anderseits war das moderate Preisniveau zweifellos auch Teil des volkswirtschaftlichen Interesses, um den Arbeitsmarkt nicht unnötig mit hohen Reisekosten für die Arbeitnehmer zu belasten und den Reiseverkehr noch einmal zusätzlich anzukurbeln.
Der starke Zuwachs der räumlichen Mobilität hatte also, anders als die bisherige Forschung suggeriert, eine Vielzahl von Ursachen, die im Rahmen dieser Masterarbeit herausgearbeitet wurden.

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