"Mit Verlaub, Ihr Herren Taxigewaltigen". Der Strukturwandel der Deutschschweizer Taxibranche von der Motorisierung bis heute"

AutorIn Name
Nicole
Silvestri
Academic writing genre
Master thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Ueli
Haefeli
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2019/2020
Abstract
Die seit langer Zeit etablierte Pferdedroschkenbranche erhielt mit dem Aufkommen der Motordroschken zu Beginn des 20. Jahrhunderts neue Konkurrenz. Nach einer anfänglichen Phase, in welcher die Motortaxis in der Öffentlichkeit auf Skepsis stiessen, erwiesen sie sich bald als existenzielle Bedrohung für die Pferdedroschkenunternehmen. Die Motorisierung der Droschken bildet den zeitlichen Ausgangspunkt der Masterarbeit. Sie behandelt anhand unterschiedlicher Quellen aus den Stadtarchiven in Basel, Bern und Zürich sowie verschiedenen Firmenarchiven die Geschichte einer Branche, die in der bisherigen historischen Forschung nur wenig Beachtung fand: Die Taxibranche. Die Arbeit stellt im Sinne der longue durée die Frage nach den grossen Entwicklungslinien in der Deutschschweiz, wobei Bruchlinien, welche die Entwicklung strukturieren, ermittelt werden. Anschliessend werden im Lichte der vielfältigen Entwicklungen über das letzte Jahrhundert in drei Spannungsfeldern Perspektivenwechsel vorgenommen und einzelne Entwicklungen tiefergehend betrachtet. In methodischer Hinsicht werden qualitative Ansätze mit statistischen Erhebungen verknüpft. Der Erste Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise – keine ertragreichen Zeiten für die Taxibranche – besiegelten die eingangs beschriebene Entwicklung: Die Pferdedroschken wurden von den Motordroschken in ihrer Zahl überholt. Das Automobil war zu jener Zeit noch immer ein Luxusgefährt, doch die Gesellschaft befand sich zunehmend im Wandel. Eine breitere Schicht erhielt Zugang zu Konsum, Freizeit und Vergnügung und leistete sich bei sonntäglichen Erlebnisfahrten ins Grüne oder abendlichen Fahrten ins Konzert ein Taxi. Während des Zweiten Weltkriegs waren «Vergnügungsfahrten» nur noch beschränkt möglich. Da Privatfahrzeuge grösstenteils eingezogen wurden, rückte der praktische Wert des Taxis ins Zentrum. In der Nachkriegszeit boomte der Autokauf und auch das Taxi wurde immer populärer. Unternehmerisch denkende Personen wie Gottlieb Duttweiler entdeckten das Billigtaxi und drückten die Tarife. Nach den 1950er und 1960er Jahren, in welchen die Nachfrage nach Taxis kaum befriedigt werden konnte, setzte in den 1970er Jahren eine Sättigung ein. Die Zeit der billigen Kleintaxis war vorbei. Der tiefen Nachfrage und dem Ruf der Chauffeur*innen nach besseren Löhnen folgten steigende Tarife. Auch wenn die höheren Tarife eigentlich nur einer Anpassung an die Teuerung entsprachen, so wurde die Entwicklung dennoch als starke Preissteigerung empfunden. Ab den 1990er Jahren setzten Liberalisierungstendenzen ein. Der erleichterte Zugang zu einer Chauffeurbewilligung sowie die Aufhebung der Konzessionsbeschränkungen führten zu einer hohen Anzahl selbständiger Taxifahrer*innen. Die grösser werdende Konkurrenz schmälerte die Umsätze. In den 2010er Jahren verstärkte der Markteintritt des US-Unternehmens Uber in der Schweiz die Probleme der Taxibranche. Gleichzeitig fungierte Uber als Sündenbock für alles, was in der Branche aus Sicht der Taxifahrer*innen falsch lief. Mit Streiks und Demonstrationen wurde auf die schlechten Umsätze aufmerksam gemacht und auf die unfairen Wettbewerbsbedingungen, welche die Firma schaffen würde. Die jüngste Zeit zeigt nun eine erneute Verschärfung der Gesetze und eine verstärkte Sensibilisierung der Politik für die Probleme der Branche. Die Betrachtung des Spannungsfeldes von Angebot und Nachfrage legt dar, dass die Dienstleistung der frühen Motortaxifahrer nicht nur aus der Fahrt bestand, sondern auch viel technisches Wissen zum Beruf gehörte. Bei den damaligen Automobilen waren Zwischenfälle nichts Ungewöhnliches. Mit dem angebotenen Service ersparte das Taxi der Kundschaft im Vergleich zum Privatauto das technische Knowhow bei einer möglichen Panne. Des Weiteren ist in diesem Kapitel die Untersuchung der Tarife zentral, die Aussagen über den Wandel vom Luxuszum Alltagsverkehrsmittel erlaubt. Von der Einführung der ersten Motortaxis bis zum Ende des Ersten Weltkrieges halbierten sich die teuerungsbereinigten Taxitarife beinahe, nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1960 halbierten sie sich erneut. Interessant ist insbesondere, dass die deflationierten Tarife seit den 1970er Jahren als stabil betrachtet werden können. Das zweite Spannungsfeld zeigt ein konfliktreiches Verhältnis zwischen Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen und die wichtige Rolle der Gewerkschaften bei Vertragsstreitigkeiten. Konflikte zwischen den Chauffeur*innen, zwischen den Unternehmen und innerhalb der Verbände oder Gewerkschaften nahmen ab der Mitte des 20. Jahrhunderts zu, weshalb das Organisieren der verschiedenen Interessen immer schwieriger wurde. In einem letzten Themenkapitel wird die Rolle von Frauen in der Taxibranche untersucht. Schon während der Zeit des Ersten Weltkrieges sind in Adressbüchern weibliche Konzessionsinhaberinnen eingetragen, wobei sich die Umstände dieser Personen unterschieden. Die meisten überbrückten als Witwen und Firmenerbinnen die Zeit bis zum Erwachsenenalter der männlichen Nachkommen, während andere mit ihrem Namen für den Ehemann bürgten, der selber keine Betriebsbewilligung erhalten hätte. Als Taxichauffeurinnen waren Frauen in den untersuchten Städten hingegen erst ab den 1960er Jahren tätig, was mit dem Chauffeurmangel jener Zeit zusammenhängt. Die Masterarbeit zeigt nicht zuletzt die Omnipräsenz der Krise in der Taxigeschichte. Und sie zeigt, warum die Proteste gegen Uber angesichts des schlechten Arbeitsschutzes im Unternehmen zwar nachvollziehbar sind, in Bezug auf die Probleme der Branche aber nur Symptombekämpfung darstellen. Uber und selbstfahrende Taxis sind die Antworten unserer Zeit auf die strukturellen Probleme der Branche, genauso wie die Kleintaxis in den 1950er Jahren eine Antwort auf den eingebüssten Luxuscharakter bei gleichbleibend hohen Tarifen waren.

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