Infrastrukturgeschichte ist ein vergleichsweise junges Forschungsfeld. Obwohl die wirtschaftlichen Auswirkungen oder die zentrale Planung von Infrastrukturen schon länger Themen der Geschichtswissenschaften sind, hat sich erst vor wenigen Jahren eine umfassende Perspektive etabliert, bei der auch politische Initiativen „von unten“ und Eigendynamiken von soziotechnischen Netzen berücksichtigt werden. Im deutschen Sprachraum hat sich vor allem Dirk van Laak für diese neue Sichtweise eingesetzt.
In der vorzustellenden Arbeit wird die Infrastrukturpolitik des Kantons Bern zwischen 1790 und 1850 anhand des Strassenbaus untersucht. Bisherige Studien zur Infrastrukturpolitik vor dem Eisenbahnbau decken vorwiegend grosse Staaten wie Frankreich oder Preussen ab, in denen es bürokratische Zentralverwaltungen gab. Aufgrund dieses Forschungsstandes erscheinen zentrale Verwaltungen als die hauptsächlichen Agenten des vormodernen Strassenbaus. In diesem Umfeld soll sich auch eine moderne Infrastrukturpolitik entwickelt haben. Als „modern“ gilt heute in der Forschung im Wesentlichen eine gemeinwirtschaftliche, d.h. defizitäre Infrastrukturpolitik. Bern hingegen war ein kleiner (oder mittlerer) Staat mit einer schlanken Verwaltung.
In der vorzustellenden Arbeit wird danach gefragt, welche Akteure in diesem Umfeld den Strassenbau vorantrieben, an welche Deutungsmuster sie an knüpften und wie sich der rasche politische Wandel zwischen 1798 und 1846 auf die Infrastrukturpolitik auswirkte. Besondere Beachtung erhalten unbeabsichtigte Folgen der verfolgten Strategien. Die Modernisierung der Infrastrukturpolitik wird damit nicht als bewusst konzipierte und umgesetzte Reform verstanden, die von einzelnen Handlungsträgern kontrolliert werden konnte. Stattdessen erscheint sie als kontingenter Prozess.
Die Untersuchung besteht aus zwei Teilen. Zuerst erfolgt ein Überblick über die Ausdehnung und Finanzierung der staatlichen Strassenbauprogramme und über den Aufbau einer spezialisierten Strassenverwaltung von 1740 bis 1850. Dieser Teil wird abgeschlossen mit drei Beispielbiographien von Personen aus den wichtigsten sozialen Gruppen, die im Strassenbau aktiv waren. Der zweite Teil enthält drei Fallbeispiele von Strassenbauprojekten: Die Verbindung Thun-Zweisimmen (Simmentalstrasse 1818-1828), die Verbindung Langnau-Sumiswald (Wannenfluhstrasse 18181838) und die Verbindung Biel-La Neuveville (Bielerseestrasse 1826-1840).
Dabei wird ein sinnvoller Mix von quantitativen und qualitativen Methoden angestrebt. Bei der Auswahl der Quellen zeigte es sich, dass zwar zentralstaatliche Institutionen mit Abstand am besten dokumentiert sind, dass es aber auch Quellen von anderen Aktenbildnern gibt. Zum Beispiel sind in der Gemeinde Mühleberg Abrechnungen erhalten geblieben, die zum ersten Mal ein einigermassen zuverlässiges Bild davon erlauben, wie der Strassenunterhalt im frühen 19. Jahrhundert ländliche Gemeinden in der Schweiz belastete.
In der ganzen Arbeit wird deutlich, dass die zentrale Verwaltung in Bern nie eine „gemeinwirtschaftliche“ (respektive defizitäre) Infrastrukturpolitik anstrebte. Stattdessen war die Verkehrspolitik für den bernischen Staat lange ein rentables Geschäft. Weil der Kanton einen grossen Teil der Ausgaben für den Strassenbau und -unterhalt zu den Gemeinden auslagerte, konnte er ohne Defizite ehrgeizige Infrastrukturprojekte realisieren. Bis 1831 übertrafen die Zolleinnahmen stets die staatlichen Ausgaben für den Strassenbau und -unterhalt und trugen dazu bei, dass das Staatsvermögen wieder auf einen ähnlichen Stand wie vor 1798 gebracht werden konnte.
In den 1820er Jahren trieb die Verwaltung diese Strategie auf die Spitze. Mit einer neuen Strassenbautechnik, die im Wesentlichen derjenigen von John Loudon MacAdams entsprach, realisierte sie markante Kostensenkungen. Aufgrund der Eigenschaften der verschiedenen Techniken ist anzunehmen, dass die Verwaltung dabei noch mehr Kosten auf die Gemeinden abwälzte als zuvor. Die zuständigen Magistraten und Ingenieure präsentierten die neue Technik jedoch als eine sozial und politisch neutrale Innovation. Damit vertraten sie eine moderne, technokratische Haltung.
Eine „moderne“ Infrastrukturpolitik ergab sich in Bern aber nicht aus einer Fortsetzung dieser technokratischen Strategie. Stattdessen nahm die Verfassungsund Petitionsbewegung von 1830/31 neben anderen sozialen und wirtschaftlichen Anliegen auch eine grundlegende Reform des Strassenunterhalts auf. Hinter dieser Forderung standen Vertreter der ländlichen Gemeinden, auf denen der Strassenunterhalt hauptsächlich lastete. Sie wollten die Ausgaben für das Strassenwesen neu verteilen. In den nächsten Jahren gestaltete das Parlament den Strassenunterhalt gegen den Widerstand von Regierung und Verwaltung grundlegend neu. Während die Zolleinnahmen zurückgingen, erreichten die staatlichen Ausgaben für den Strassenbau und -unterhalt neue Dimensionen.
Die neuen politischen Verhältnisse nach 1831 führten auch zu einer ausgeglichenen regionalen Verteilung der staatlichen Infrastrukturinvestitionen. Damit erfüllte der Kanton Bern ein weiteres Kriterium einer modernen Infrastrukturpolitik. Diese ausgeglichene Verteilung folgte aber nicht aus infrastrukturtheoretischen Überlegungen der Zeitgenossen, sondern aus dem neuen Selbstverständnis der kantonalen Parlamentarier nach 1831. Weil sich diese hauptsächlich als Vertreter der verschiedenen Landesteile verstanden, achteten sie auf die regionale Verteilung der Investitionen.
Die Zentralisierung des Strassenwesens in Bern (und ähnlich auch in den anderen Schweizer Kantonen) ist bemerkenswert, weil andere Staaten die Verwaltung der Strassen im 19. Jahrhundert eher dezentralisierten. In Preussen oder Grossbritannien zum Beispiel lagerten die zentralen Behörden die entsprechenden Aufgaben bis Ende des Jahrhunderts vollständig an lokale und regionale Körperschaften aus. Auch wenn der bisher in der Forschung übliche Begriff einer „modernen“ Infrastrukturpolitik sicher noch differenzierter formuliert werden kann, ist doch festzuhalten, dass Bern ab den 1830er Jahren eine im internationalen Vergleich moderne Infrastrukturpolitik verfolgte.
Die Untersuchung eröffnet damit eine neue Sicht auf den Wandel der Infrastrukturpolitik im 18. und 19. Jahrhundert. Die Wichtigkeit der bürokratischen Zentralverwaltungen, für die sich die Forschung bisher vor allem interessierte, ist zu relativieren. Der Fall Bern zeigt, dass wichtige Impulse auch von lokalen und regionalen Eliten kommen konnten, während die Zentralverwaltung (vermeintlich) selbst tragende Strassenbauten anstrebte. Eine moderne, defizitäre Infrastrukturpolitik ergab sich in Bern aus einem komplexen Zusammenspiel von verschiedenen Akteuren und finanzpolitischen und technologischen Eigendynamiken.
Die Dissertation wird in der Reihe Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern erscheinen.
Ein rentabler Staat? Elitenwechsel, Verwaltung und Strassenbau im Kanton Bern 1790–1850
Academic writing genre
PhD thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Pfister
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2008/2009
Abstract