Die Lizentiatsarbeit geht davon aus, dass sozialer Protest eine Form rationalen Verhaltens ist, das kollektives Handeln auslöst, sich jenseits der Kanäle institutionalisierter Politik bewegt, sich gegen die bestehende Ordnung richtet und dauerhaft ist. Sie verortet das Auftreten der maoistischen Organisationen in der Schweiz in der Studentenund Jugendbewegung der 1960er Jahre, die in der sozialhistorischen Werteforschung als Generationenkonflikt dargestellt wird, in dem fundamentale habituelle Konfliktlinien aufbrechen und sich kollektive Identitäten bilden. Diese Ausbildung wird in dieser Arbeit als ein mehrschichtiger, kommunikativer Vernetzungsprozess verstanden, der mit der Formierung potentieller Konfliktgruppen begann, die sich in einer gemeinsamen, von ihren Akteuren ähnlich erfahrenen und gedeuteten sozialen Konfliktlage befanden. Diese kollektiven Identitäten werden als soziale Milieus verstanden, die empirisch analysiert werden können. Die „LebensweltTheorie“, die „Theorie sozialer Milieus“ und die Ansätze der soziologischen Bewegungsforschung fundieren die vorliegende Untersuchung.
Das Ziel der Lizentiatsarbeit war es, Typologien, Milieustrukturen, Handlungsund Personaltypen des als maoistisch bezeichneten Milieus in der Deutschschweiz herauszuarbeiten und darüber hinaus zu klären, welche physischen und psychischen Auswirkungen diese auf die Akteure hatten. Dies ist einerseits mittels milieuspezifischen Oral-History-Interviews, anderseits mittels hermeneutischer und inhaltsanalytischer Textanalyseverfahren geschehen. Relevant waren dabei in erster Linie alle gedruckten Publikationen der Kommunistischen Partei der Schweiz/Marxisten-Leninisten (KPS/ ML), bzw. über die KPS/ML, welche im Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich archiviert sind. Von Interesse waren insbesondere das monatlich erschienene Publikationsorgan „Oktober“, das für den Zeitraum zwischen 1972 und 1987 analysiert wurde sowie die Berichterstattung über die Partei in der schweizerischen und internationalen Presse. Ausserdem interessierten alle ungedruckten Quellen wie die Staatsschutzakten über die KPS/ ML, welche im Zürcher Staatsarchiv eingesehen werden können, sowie die autobiographischen Aufzeichnungen zweier ehemaliger Mitglieder. Interne Berichte, Dokumente, Notizen, Protokolle und ähnliches der Partei fehlten gänzlich, was mit dem konspirativen Verhalten der Parteimitglieder zu erklären ist.
Die KPS/ML charakterisierte sich durch ihre hierarchische und homogene Binnenstruktur. Das politische Engagement fand ausserhalb der institutionalisierten Kanäle der Politik statt und verlangte von den Parteimitgliedern eine überdurchschnittlich hohe Bereitschaft, einen grossen Teil der personellen und finanziellen Ressourcen der Partei zur Verfügung zu stellen. Die Akteure waren bereit, einen Verhaltenskodex zu tragen, der sich durch einen hohen Ethos auszeichnete. Das konspirative Verhalten, die Kritik und Selbstkritik waren Rituale, welche die sozialen und kollektiven Identitäten prägten. Mehrere Aktivisten waren von Parteiausschlüssen oder anderen Sanktionen betroffen, die das Zentralkomitee aussprach. In der 16-jährigen Parteigeschichte lassen sich mindestens drei Brüche konstatieren, die an den drei Parteitagen zwischen Ende 1971 und 1987 festgemacht werden können und die sich fundamental auf die soziale und kollektive Identität der Parteimitglieder auswirkten. Den Anspruch, ihren Einfluss auf die Arbeiterbewegung und ihrer Repräsentanten in der Schweiz zu vergrössern, musste die Partei bald einmal fallen lassen, auch wenn dies gegen aussen nicht kommuniziert wurde. Zudem änderte sie deren Haltung zur Frage der Landesverteidigung im Laufe der 1970er-Jahre, was zu einem ersten Exodus von Parteimitgliedern führte und die Partei innerhalb der Linken weiter isolierte. Der zweite Parteitag von 1978 zementierte die zentralistische Binnenstruktur der Partei und übertrug dem Zentralkomitee faktisch eine alleinige Handlungsbzw. Entscheidungskompetenz nicht nur auf strategischer Ebene. Ausserdem professionalisierte sich die Partei, was sich durch den Erwerb einer Liegenschaft in Zürich, einer Druckerei sowie anderer materieller Werte zeigte. Zum Zeitpunkt ihrer Auslösung verfügte die Partei über ein beträchtliches Vermögen, vorwiegend aus Spenden und Mitgliederbeiträgen gespiesen. Am Ende der Untersuchung bleibt das Bild einer kleinen, politischen Gruppierung, deren strategische Zielsetzungen nicht einmal ansatzweise realisiert werden konnten und deren Wirkungshorizont nicht über die eigenen Grenzen hinaus reichte.
Die Lebenswelt der Maoistinnen und Maoisten in Zürich. Kognitionen, politisches Engagement und kollektive Identität der KPS/ML 1972–1987
Academic writing genre
Licenciate thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Brigitte
Studer
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2006/2007
Abstract