Die koloniale Karriere des Alfred Kaiser (1862 – 1930)

AutorIn Name
Angelika
Hardegger
Academic writing genre
Master thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Stephan
Scheuzger
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2017/2018
Abstract
Die Debatte über die Verstrickungen der Schweiz mit dem Kolonialismus hat in den vergangenen Jahren eine neue Dynamik angenommen. Sie mündete nicht zuletzt im Aufruf, die Geschichte der Schweiz vor dem Hintergrund der globalen Verflechtungen ihrer Bürgerinnen und Bürger gleichsam neu zu denken. Die Geschichte des Thurgauers Alfred Kaiser (1862 – 1930) bietet ein Fallbeispiel für die mannigfaltigen Verbindungen von Akteuren aus der Schweiz mit der kolonialen Welt. In der Industriestadt Arbon geboren, reiste Alfred Kaiser im Alter von 18 Jahren erstmals nach Ägypten. Damit begann eine Karriere, die aufs Engste mit dem Kolonialismus verknüpft war. Sie führte den Taxidermisten von Kairo aus für mehrere Jahre auf die Sinaihalbinsel, wo er sich als Naturalienhändler, Reiseführer, Dolmetscher und Sammelhelfer europäischer Gelehrter durchschlug sowie naturgeschichtliche Arbeiten über die Halbinsel publizierte. Nach dem Verlust von Frau und Kind im Jahr 1893 gelangte Kaiser, wie er selbst schrieb, vom „naturwissenschaftlichen Beobachten [...] nach und nach ins Koloniale hinein“. So partizipierte der aus einer mittelständischen Familie stammende Kaiser in den 1890er Jahren an zwei Afrikaexpeditionen des deutschen Fabrikantensprösslings und Kolonialisten Max Schoeller, in deren Verlauf er vom persönlichen Tierpräparator Schoellers zu dessen Kolonialberater aufstieg. Im Jahr 1904 wurde Kaiser von der Zionistischen Weltorganisation für eine Expedition nach Ostafrika rekrutiert, wo er die Chancen einer Kolonie für jüdische Siedlerinnen und Siedler untersuchte. Zwei Jahre später führte den Arboner eine kommerzielle Studienreise nach Nordafrika. Hier sammelte Kaiser im Auftrag der Schweizerischen Eidgenossenschaft und privater Wirtschaftsorganisationen nützliche Informationen für die heimische Exportindustrie. Diese Reise verhalf Alfred Kaiser im Jahr 1909 zum grössten Sprung seiner Karriere: Er wurde vom Bundesrat zum offiziellen Handelsagenten der Schweiz in Ägypten ernannt. Alfred Kaisers beruflicher und privater Werdegang war untrennbar mit dem Kolonialismus verbunden. Der Kolonialismus war der historische Zusammenhang, in dem Kaiser seine Identität formulierte und in dem er zeitlebens versuchte, sich ein würdiges Dasein zu erarbeiten. Diese Arbeit zeigt mittels des biografischen Zugangs auf, wie Alfred Kaiser dank seiner kolonialen Karriere den sozialen Aufstieg in der heimischen Gesellschaft schaffte: Mit seinen Reiseberichten aus den Kolonien und naturgeschichtlichen sowie ethnografischen Schenkungen an St. Galler und Thurgauer Museen verschaffte er sich über die Jahre grosses Ansehen im lokalen Milieu der Ostschweiz. Im Jahr 1899 konnte der Sohn einer Arbonerin und eines Deutschen dank seines Rufs als Afrikareisender und Forscher das Bürgerrecht seiner Heimatstadt erwerben. Im selben Jahr heiratete Kaiser in das angesehenste Geschlecht von Arbon, in die Familie Saurer, ein. Dieser Aufstieg gelang ihm, obwohl ihm die Anerkennung als Wissenschaftler ausserhalb der engeren Heimat verwehrt blieb. Wenn sich Kaiser besonders gegen Ende seiner Karriere als bedeutender Sinaiforscher sah, blieb seine Lage im Netz der Wissensproduktion und -zirkulation über den Sinai aufgrund seiner fehlenden fachspezifischen Ausbildung peripher. Dennoch trug Kaiser zum wissenschaftlichen Wissen über die von ihm bereisten Räume bei: Als Sammler von Gesteinen und professioneller Präparator von Pflanzen und Tieren belieferte er angesehene Akademiker wie Hans Schinz, zu dieser Zeit Direktor des Botanischen Gartens in Zürich, mit materiellem Wissen aus den Kolonien. Diese Mittlerrolle verlieh Kaiser im Verlauf seiner Karriere immer wieder Zugang zu einflussreichen Personen sowie die Möglichkeit, bei ihnen Gefälligkeiten einzuziehen. So nutzte er die Ressource Natur zeitlebens nicht nur als finanzielles, sondern auch als kulturelles und soziales Kapital. Der Umgang mit angesehenen Grössen der Naturwissenschaften trug zudem zu seinem Selbstverständnis als Natur- und Afrikaforscher bei. Dieses mündete um die Jahrhundertwende in Kaisers subjektiver Angliederung an eine multidisziplinäre Kolonialwissenschaft, die handlungsleitendes Wissen für koloniale Unternehmen produzierte. In dieser Rolle des Kolonialberaters verstand sich Kaiser als Vertreter einer rationalen, der exakten Forschung verpflichteten europäischen Zivilisation. De facto war seine Afrikaforschung aber ein sehr irrationales Unterfangen, das wenig mehr bot als die Wiedergabe gängiger Stereotypen des kolonialen Diskurses. Dass Kaiser diesen Diskurs ab Mitte seiner Karriere unkritisch teilte, ist umso interessanter, als er im Verlauf seines Werdegangs immer wieder mit den dazugehörigen Spannungen rang. Besonders auf der Sinaihalbinsel identifizierte er sich stark mit der einheimischen Bevölkerung und übernahm teilweise deren Lebensweise. Aus ökonomischen Gründen „verlernte“ er allerdings im Verlauf seiner kolonialen Karriere, sich mit Menschen afrikanischer oder arabischer Herkunft zu identifizieren. Insbesondere auf seinen Reisen durch Deutsch-Ostafrika entwickelte sich Alfred Kaiser so zum gestrengen Kolonialherrn, der seine Autorität im Zweifelsfall auch mit physischer Gewalt aufrechterhielt.

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