Die Geschichte der St. Galler Primarschulklasse 1 – 6f in den Jahren 1898 – 1904 . Über den Umgang mit Erinnerungen in den Geschichtswissenschaften und wie sie uns doch helfen, die Vergangenheit zu betrachten

AutorIn Name
David Ché
Wieland
Academic writing genre
Master thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christof
Dejung
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2019/2020
Abstract
Während des Zweiten Weltkriegs, 1943, traf sich eine Gruppe ehemaliger Primarschulkameraden, unter ihnen der ehemalige St. Galler Polizeikommandant, Paul Grüninger und der damalige Vorsteher des eidg. Verteidigungsdepartements, Bundesrat Karl Kobelt, zur ersten von insgesamt 15 Klassenzusammenkünften. Knapp zehn Jahre später entstand ein in Leder gebundenes und auf Büttenpapier handgeschriebenes Buch mit dem Titel Die Geschichte der St. Galler Primarschulklasse 1 – 6f in den Jahren 1898 – 1904. Den inhaltlichen Schwerpunkt des Buchs bilden die Lebensläufe von 40 der ehemals 82 Schüler dieser Primarschulklasse. Die in den Lebensläufen enthalten Schilderungen gewähren einen Einblick in die Gedankenwelt der einzelnen Männer sowie in das kollektive Gedächtnis der Gruppe. Die subjektive Färbung, welche in einer solchen Quelle unweigerlich vorhanden ist und an sich ein Problem für die Arbeit von Historikerinnen und Historikern mit dieser Quellengattung darstellt, spielt dabei eine entscheidende Rolle. Sie ermöglicht es, Rückschlüsse auf Wertevorstellungen und geschlechterspezifische Rollenverhältnisse zu ziehen und die für diese Generation typischen Erfahrungen aufzuzeigen, wodurch die historische Relevanz autobiografischer Quellen unterstrichen wird. Da eine der Stärken der Quelle ihre thematische Breite ist, welche den Umfang einer Masterarbeit sprengen würde, war es notwendig, die Arbeit auf folgende vier Themenfelder einzugrenzen: Die Familien der Männer, der berufliche Werdegang, die militärische Erziehung und das Erleben der beiden Weltkriege sowie die weitgehend globale Erfahrung der gestiegenen und beschleunigten Mobilität. In Bezug auf die genannten Themen lassen sich folgende Erkenntnisse gewinnen: Die in Folge der Industrialisierung vollzogene Trennung von Wohn- und Arbeitsort prägte die geschlechterspezifische Rollenverteilung in den Familien. Der Ehemann und Vater sollte der ausserhäuslichen Erwerbsarbeit nachgehen und damit den Lebensunterhalt der Familie sichern. Die Ehefrau und Mutter war daheim für die Haushaltsführung und Erziehung der Kinder zuständig. Wie die Lebensläufe zeigen, entsprach dieses Ideal in der Elterngeneration keineswegs der Normalität. In vielen Familien waren die Mütter (und Kinder) gezwungen, durch Heimarbeit, zusätzlich zur Hausarbeit und Erziehung, das Einkommen der Familie aufzubessern. Die damit verbundenen grossen Anstrengungen prägten das Bild der aufopfernden Mutter, welches im kollektiven Gedächtnis der Männer verankert war. In den Kernfamilien der Männer zeigte sich die Einbindung der Ehefrauen und Mütter in die Erwerbsarbeit nur noch vereinzelt. Die gesellschaftliche Rolle der Arbeit, die sich im Laufe des 19. Jahrhundert veränderte, mündete in einer starken Fokussierung auf den eigenen beruflichen Werdegang und die Reduzierung des Vaters auf dessen Beruf: Bei den Passagen der Autoren zur Ehefrau und zu den Kindern wurde ein besonderes Augenmerk auf die Ausbildungen und Berufe ihrer Söhne gelegt. Der Beruf wurde zum wichtigsten Faktor für die gesellschaftliche Stellung der Männer und ihrer Familien (Arbeit als Status). Zugleich diente die Erwerbsarbeit als Quelle männlicher Identität. Daneben zeigt sich, dass ein langjähriges Arbeitsverhältnis der Norm entsprach und es lässt sich eine Affinität zur Selbständigkeit feststellen. Die Männlichkeitsvorstellungen der Autoren hingen aber nicht nur mit beruflichem Erfolg zusammen, sondern wurden bereits von klein auf durch militärische Wertvorstellungen geprägt. Zahlreiche Stellen in den Lebensläufen belegen dies. Eine wichtige Rolle spielte die Schule und insbesondere der Turnunterricht. Dort übten die Jungen nicht nur das Exerzieren, sondern ebenso das Schiessen. Die Schilderungen der Männer aus der Schulzeit lassen zudem auf die kollektive Erfahrung von körperlicher Gewalt, die insbesondere von den Lehrpersonen ausging, als Teil der damaligen Erziehungsmethoden schliessen. Die militärische Prägung, die sich in der Rekrutenschule und in den Dienstzeiten während der beiden Weltkriege noch verstärkte, bildete zusammen mit dem damit verbundenen Gefühl einer engen Kameradschaft eine wichtige gesellschaftliche Integrationsklammer. Die Quelle selbst und die ihr zu Grunde liegenden Klassenzusammenkünfte sind eine Manifestation dieses Kameradschaftsgefühls. Zuletzt zeigt sich auch die kollektive Erfahrung der gestiegenen Mobilität aufgrund der Einführung und des Ausbaus neuer Verkehrsmittel. Dabei steht vor allem das Automobil in den Erinnerungen der Männer sinnbildlich für die, von Mehrheit der Gesellschaft erlebte, Beschleunigung und Vernetzung der Welt, welche bis heute ihre klaren Spuren in den Landschaften und Gesellschaften hinterlassen hat und hinterlässt. Die vielen Aspekte, die das Leben der einzelnen Autoren prägten, fügen sich in ihrer Gesamtheit wie ein Puzzle zu einem Bild zusammen, welches die Lebenswelt der Menschen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts darstellt und abstrakt formuliert als deren kollektives Gedächtnis bezeichnet werden kann.

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