Academic writing genre
PhD thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Jeronim
Perovic
Codirection
Nada Boskovska
Institution
Historisches Seminar
Place
Zürich
Year
2019/2020
Abstract
Die Energiegewinnung und Erschließung von Energieträgern waren seit Beginn der Sowjetunion zwei der wichtigsten Ziele und Machtausdruck der jeweiligen politischen Führung. So hatte bereits Nikolaj Bucharin erklärt, dass das „Umpumpen von materieller Energie aus der Natur in die Gesellschaft“ grundlegend für deren Entwicklung sei. Seit der Schaffung der GOĖRLO-Kommission standen zahlreiche energetische Großprojekte im Mittelpunkt sowjetischer Energiepolitik, die den Übergang zum Kommunismus möglich machen und die eigene Überlegenheit gegenüber anderen Wirtschaftssystemen repräsentieren sollten. Dabei kam dem im Schatten der Kohle stehenden Erdöl zunächst nur eine untergeordnete Rolle zu. Erst der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit bewirkten den Aufstieg des Erdöls zu einem strategischen Gut, welches nun einen zentralen Platz in der sowjetischen Innen- und Außenpolitik einnahm.
In den 1970er Jahren vollzog sich ein energiepolitischer Schwerpunktwechsel vom Erdöl zum Erdgas, welches nun zum wichtigsten primären Energieträger und Exportgut wurde. Die Erschließung der energetischen Rohstoffe Westsibiriens, des „Dritten Bakus“, wurde vorangetrieben und durch die Gaskampagne unter Leonid Brežnev setzte sich das Erdgas gegenüber anderen Energieträgern letztlich durch. Der Export von Erdgas über Pipelines nach Westeuropa ermöglichte der politischen Führung, über die erworbenen Devisen Technologien und Konsumgüter zu importieren, welche die Sowjetunion nicht in der Lage war, selbst zu produzieren. Dies machte die Sowjetunion jedoch abhängig von wirtschaftlichen Schwankungen auf dem Weltmarkt.
Ziel des Teilprojektes ist es, die kontrovers geführte innersowjetische Diskussion über die Erschließung Sibiriens und die Anbindung der Sowjetunion an Westeuropa durch Energieexporte aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive nachzuzeichnen. Besonders der kulturhistorische Zugang lässt Erkenntnisse über innenpolitische Machtkonstellationen und politische Vorstellungen der Machtträger zu, die sich in den energetischen Großprojekten niederschlugen. Derartige Projekte, deren Wurzel in den 1920er Jahren liegen, symbolisierten vor allem auch utopische Fortschrittsgedanken und dienten der Mobilisierung der Gesellschaft. Ihre Inszenierung ist als Machtdemonstration nach außen und als Machterhaltung nach innen zu verstehen, weshalb nicht nur rein politikgeschichtliche Erkenntnisse gewonnen, sondern auch Rückschlüsse über die Organisation von politischer Macht unter Brežnev, die Herrschaftsmechanismen in der Sowjetunion der 1970er Jahre und den Zustand der Gesellschaft getroffen werden können. Sowjetische Großprojekte wie der Staudammbau oder die BAM wurden stets medial inszeniert. Deshalb fragt das Projekt auch nach der Symbolik, die sich auf Plakaten und Bildern, in Losungen oder Ritualen findet und der Unterstützung politischer Entscheidungen sowie der Mobilisierung zur Teilnahme an der Erschließung Westsibiriens diente.
In den 1970er Jahren vollzog sich ein Richtungswechsel im Außenhandel. Während die UdSSR noch in den 1960er Jahren durch die Pipelines Družba und Bratstvo den energetischen Handel mit den „sozialistischen Bruderstaaten“ Mittelosteuropas ausgeweitet hatte, zeigten
seit dem arabischen Ölembargo besonders die Länder Westeuropas verstärktes Interesse am Import sowjetischer Energieträger zur Diversifizierung ihrer Energiequellen. Doch der späte Zeitpunkt, zu welchem die neue Außenhandelspolitik offiziell erwähnt wurde, lässt darauf schließen, dass es im Vorfeld innersowjetische Debatten über die Anbindung an Westeuropa gegeben haben muss.
Spätestens für die 1970er Jahre muss deshalb die Frage nach einer sich formierenden Opposition gestellt werden, die eine „Unterstützung“ der kapitalistischen Länder durch sowjetische Rohstoffe ablehnte. Ergänzt wurde diese durch die in der Presse, Belletristik und in Filmen artikulierten moralischen und ökologischen Bedenken der Erschließung Sibiriens. Das wirtschaftliche Vorgehen und die Entwicklung Sibiriens, welches schon zuvor u.a. als Rohstofflager gedient hatte, wurden hierbei grundsätzlich reflektiert und sollen auch in diesem Projekt beleuchtet werden. Für das Verständnis der mit Nachdruck geführten Gaskampagne ist somit die Einbeziehung gesellschaftspolitischer und internationaler Kontexte unerlässlich. Mit der Veranschaulichung vom Zustandekommen energiepolitischer Abhängigkeiten stellt das Projekt auch den Bezug zur gegenwärtigen Energiepolitik Russlands her, deren Wurzeln im Untersuchungszeitraum begründet liegen.
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