Debattenbeitrag zur Schwächung der Südosteuropäischen Geschichte in der Schweiz

Debattenbeitrag verfasst von Jan Dutoit, Felix Frey und Heiner Grunert und unterzeichnet von weiteren 32 Geisteswissenschaftler*innen aus der Schweiz oder mit Bezug zur Schweiz.

Die Universität Zürich (UZH) nimmt bei der Ausbildung von Osteuropa-Historiker*innen in der Schweiz eine einzigartige Stellung ein. Grund dafür ist ihr besonderer räumlicher Fokus: Nur an der UZH sind Forschung und Lehre zur Geschichte Südosteuropas dank der Lehrstuhlinhaberin Nada Boškovska fest verankert.

Per 1. August 2024 soll der Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Universität Zürich neu besetzt werden. Ein Blick auf die Liste der im Bewerbungsverfahren verbliebenen Personen verrät schnell: Der Südosteuropa-Schwerpunkt des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte der UZH wird nicht beibehalten. Die Osteuropa-Historiker*innen, die zu den Kommissionsgesprächen eingeladen wurden, verfügen allesamt über keine nennenswerte Südosteuropa-Expertise. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen primär im postsowjetischen Raum, der bereits an den Universitäten Basel und Bern intensiv beforscht wird und auch an der Universität Zürich gut vertreten ist.

Wir stellen weder die Eignung der zu den Kommissionsgesprächen eingeladenen Kolleg*innen in Frage noch wollen wir auf das weit fortgeschrittene Bewerbungsverfahren an der UZH Einfluss nehmen. Es ist uns jedoch ein grosses Anliegen, darauf hinzuweisen, dass die Schweizer Südosteuropa-Forschung aus dieser Personalentscheidung deutlich geschwächt hervorgehen wird. Diese Schwächung der Südosteuropäischen Geschichte erscheint widersinnig, wenn man sich die Bedeutung dieser Grossregion für die Schweiz vor Augen führt: Ende 2022 lebten gemäss dem Bundesamt für Statistik rund 328'000 Bürgerinnen und Bürger südosteuropäischer Länder in der Schweiz (3.7% der Gesamtbevölkerung), dazu kommt eine hohe Zahl von Schweizerinnen und Schweizern mit familiären Verbindungen nach Südosteuropa. Die enge Beziehung der Schweiz zu dieser Region zeigt sich auf alltäglicher, wirtschaftlicher und politischer Ebene: Im Zug Gespräche auf Albanisch oder in einer südslavischen Sprache zu hören, gehört zum Alltag. Im Kosovo gibt es in fast jedem Dorf Menschen, die in die Schweiz ausgewandert sind und zur Ferienzeit in die alte Heimat zurückkehren. Zudem ist die Schweiz seit Jahrzehnten auch militärisch an der Friedensförderung im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina beteiligt.

Die Universität Zürich plant derzeit zwar ein neues Osteuropainstitut, an dem auch die Südosteuropa-Forschung gestärkt werden soll. In den bestehenden akademischen Strukturen sichert jedoch nur eine entsprechend besetzte Professur längerfristig einen Forschungsschwerpunkt. Ob Dissertationen mit historischem Südosteuropabezug in der Schweiz weiterhin angemessen betreut werden können, hängt ebenfalls von dieser strategischen Entscheidung ab.

Wir halten die Schwächung der Schweizer Südosteuropaforschung aus den genannten Gründen für einen Fehler und plädieren für einen öffentlichen Dialog darüber, wie Forschung und Lehre zu Südosteuropa zukünftig in der Schweiz entwickelt und institutionell gesichert werden können. Wir möchten akademische Expert*innen und Entscheidungsträger*innen gern einladen, sich an einem Forum zu beteiligen, um Wege und Mittel zu finden, Südosteuropaforschung in der Schweizer Forschungslandschaft zu beleben (Details folgen). 

 

Kontakt: Jan Dutoit: jan.dutoit@unibe.ch, Felix Frey: felixfrey@ik.me, Heiner Grunert: heiner.grunert@unibas.ch

Unterzeichnende in alphabetischer Reihenfolge:

• Dr. Gruia Badescu, Osteuropahistoriker, Universität Konstanz

• Prof. Dr. Martina Baleva, Kunsthistorikerin, Universität Innsbruck

• Dr. Davor Beganović, Slavist, Universität Tübingen und Konstanz

• Dr. Sara Bernasconi, Osteuropahistorikerin und Slavistin, Zürich

• MA Sandra Bradvić, Kunsthistorikerin und Kuratorin, Zürich

• Dr. Thomas Bürgisser, Osteuropahistoriker, Zürich

• MA Jan Dutoit, Südosteuropahistoriker und Slavist, Schweizerische Osteuropabibliothek, Bern, Mitverfasser des Debattenbeitrags

• Dr. des. Nadine Freiermuth Samardžić, Historikerin, Basel

• Dr. Felix Frey, Osteuropahistoriker und Slavist, St. Gallen, Mitverfasser des Debattenbeitrags

Dr. Armina Galijaš, Südosteuropahistorikerin, Universität Graz

• Dr. Heiner Grunert, Osteuropahistoriker und Slavist, Universität Basel, Mitverfasser des Debattenbeitrags

• MA Samantha Guzman, Historikerin, Universität Bern

Prof . Dr. Aleksandar Jakir, Südosteuropahistoriker, Universität Split 

• Dr. Benjamin Kaelin, Osteuropahistoriker, Zürich

MA Nathalie Keigel, Historikerin, Universität Hamburg

Dr. Sandra King-Savić, Sozialwissenschaftlerin, Universität St. Gallen

Dipl. theol. Stefan Kube, Theologe und Historiker, Zeitschrift «Religion & Gesellschaft in Ost und West»

• Dr. Gérald Kurth, Slavist, Bern

Lic. phil. Deana Mandić Antić, Slavistin, Universität Bern

• MA Tanja Miljanović, Osteuropahistorikerin und Slavistin, Bern

MA Jan Miluška, Slavist, Bern 

• Dr. Nataša Mišković, Südosteuropahistorikerin, Universität Bern

• Dr. Samra Mujanić, Slavistin, Universität Konstanz

• Dr. Andreas Petersen, Historiker, FHNW, Zürich/Berlin

• Dr. Jelica Popović, Kulturwissenschaftlerin, PH Zürich

Dr. Michael Portmann, Südosteuropahistoriker, Institute for Habsburg and Balkan Studies der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW)

• Prof. Dr. Boris Previšić, Germanist, Universität Luzern

• Dr. Ljiljana Reinkowski, Slavistin, Universität Basel

• Dr. Sabine Rutar, Historikerin, Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Regensburg

• Prof. Dr. Oliver Jens Schmitt, Osteuropahistoriker, Universität Wien

• Prof. Dr. Nenad Stojanović, Politikwissenschaftler, Universität Genf

Privatdozent Dr. Rolf Wörsdörfer, Historiker, Technische Universität Darmstadt 

• Dr. Franziska Zaugg, Historikerin, Universität Fribourg

• Prof. Dr. Béatrice Ziegler, Historikerin, PH FHNW am Zentrum für Demokratie Aarau / Universität Zürich

Prof. Dr. Tanja Zimmermann, Kunsthistorikerin, Universität Leipzig