Von der zweiten Hälfte des 19. bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte Bern seinen bislang kräftigsten Bevölkerungszuwachs. Dieser manifestierte sich offenkundig in der räumlichen Ausdehnung der Stadt. In den neu besiedelten Aussenquartieren sind dabei lange Zeit keine Kirchen gebaut worden – trotz der auch durch Zuwanderung immer noch sehr hohen Reformiertenquote. Diese Beobachtung stellt den Ausgangspunkt der Arbeit dar und bildet für einen ersten Teil den Hintergrund zu den Erkenntnisinteressen: Wie kann die hinkende Anpassung der reformierten Kirche an die städtischen Strukturen erklärt werden, und wie hat sich die Situation bis zum Ende der Urbanisierungsphase ca. 1960 weiterentwickelt?
In der Tat erachteten es die drei, zur Gesamtkirchgemeinde zusammengeschlossenen Berner Parochien Nydegg, Münster und Heiliggeist als kein dringendes Anliegen, auf die veränderten seelsorgerischen Bedürfnisse angemessen zu reagieren. In der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts beschloss als erstes die Nydegg-Kirchgemeinde, eine Aussenkirche in den östlichen, vorwiegend besiedelten Teil ihres Banns zu stellen. In den Folgejahrzehnten verringerten sich die Abstände zwischen der Überbauung eines neuen Stadtteils und der entsprechenden Errichtung einer Kirchgemeinde mit Gotteshaus. In der Endphase nach dem Zweiten Weltkrieg verlief dann die Entstehung von Neusiedlungen und neuen Parochien mit ihren Sakralbauten beinahe parallel. Für das Verständnis dieser Entwicklung ist die Emanzipation der Kirche vom Staat zu berücksichtigen. Sie geschah nicht bloss im plebiszitären Akt über das neue Kirchengesetz von 1874, das für eine Entflechtung zwischen geistlicher und weltlicher Macht sorgte, sondern in einem länger andauernden Ablöseprozess. Die reformierte Kirche musste dabei erst die tradierten staatskirchlichen Handlungsmuster überwinden und gleichzeitig ihre Basis für kirchenpolitische Angelegenheiten aktivieren, bevor sie sich entfalten und das Konzept mit Quartierskirchgemeinden durchsetzen konnte.
Definiert sich der Begriff Kirchlichkeit hier in erster Linie als Engagement im Gotteshausbau und in der Gründung neuer Parochien, erfasst er im zweiten Teil der Arbeit vorwiegend die formelle Kirchenmitgliedschaft. Ihre Absolutzahlen und Anteilswerte an der Gesamteinwohnerschaft Berns sind seit 1960 stark rückläufig. Diese Abnahme ging einher mit der sozialen und demographischen Ausdifferenzierung der Stadtbevölkerung im Zug der Agglomerisierung: In der Stadt blieben tendenziell Einkommensschwächere und Personengruppen, die noch nicht oder nicht mehr im Erwerbsleben stehen. Zur Beschreibung dieses Phänomens hat sich der etwas plakative Begriff der A-Stadt (Alte, Arme, Ausländer, Auszubildende, etc.) etabliert. In der Arbeit interessiert die Frage, inwieweit sich das reformierte Bevölkerungssegment hinsichtlich der A-Stadt- Entwicklung von der Gesamtbevölkerung der Stadt Bern unterschied. Volkszählungsbasierte Auswertungen der beiden Populationen nach Fünfjahresaltersklassen und sozioprofessionellen Kategorien seit 1960 respektive 1980 zeichneten ein uneinheitliches Bild. Zum einen waren bei den Anteilen an Auszubildenden und an ungelernten Arbeitskräften keine nennenswerten Unterschiede festzustellen. Auf der anderen Seite waren die Anteilswerte für die über 64-Jährigen, für die Erwerbslosen und für die Ausländer bei den Reformierten bedeutend höher, beziehungsweise für Letztere zwei tiefer.
In der verwendeten Literatur bildet die Reurbanisierung eine nächste Stufe des Städtewandels: Vor allem unabhängige, gutausgebildete und -verdienende Junge ziehen in zentrumsnahe renovierte Altbauwohnungen. Für Bern kann dieser Trend insofern bestätigt werden, als dass die Anteile an Kaderpositionen bei den sozioprofessionellen Kategorien in den letzten zwanzig Jahren stark gestiegen sind, und zwar bei den Reformierten wie bei der Gesamtbevölkerung gleichermassen. Neben den wanderungsbedingten Veränderungen von Berns Kirchlichkeit werden die Kircheneintritte und -austritte seit 1960 untersucht. Während sich Erstere auf tiefem Niveau konstant bewegten, änderte sich der Kurvenverlauf Letzterer mehrmals: Die Austritte nahmen seit 1970 leicht und seit anfangs 1980 stark zu, erreichten 1987 und 1993 zwei Hochs und verringerten sich danach tendenziell leicht. In einer Auswertung der Austrittsgründe während dieser Peaks kamen mit Abstand die Personengruppen zuerst, die keine oder persönliche Gründe für den Austritt angaben. Dies deutet darauf hin, dass in erster Linie individuell festgelegte Motive für den Austritt entscheidend sind.