Bildungswege – Lebenswege. Die Universitätsbesucher aus dem Bistum Konstanz im 15. und 16. Jahrhundert

AutorIn Name
Beat
Immenhauser
Academic writing genre
PhD thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Rainer C.
Schwinges
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2004/2005
Abstract

Während der letzten Jahre hat sich in der historischen Bildungsforschung die Ansicht verfestigt, dass Universitäten und ihre Besucher einen wesentlichen Beitrag zu gesellschaftlichen und staatlichen Entwicklungen leisteten, die ganz allgemein den Übergang vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit markierten. Insbesondere Entwicklungen in der königlichen, landesherrlichen, kirchlichen und städtischen Verwaltung und Rechtsprechung, aber auch in den Bereichen des Schulwesens oder der Seelsorge wären ohne die Präsenz universitätsgebildeter Spezialisten nicht vorstellbar gewesen. Um solche Zusammenhänge zu konkretisieren und an den handelnden Personen dingfest zu machen, setzte es sich die Dissertation zum Ziel, das Aufkommen von Akademikern in verschiedenen Bereichen des beruflichen Lebens zu untersuchen. Solche wirkungsgeschichtlichen Aspekte gelehrten Wissens beziehen sich jedoch nicht, oder nur ganz am Rande, auf die Wissenschaften selbst. Das Erkenntnisinteresse der Studie zielt vielmehr auf die Frage, inwiefern dieser Vorgang der Akademisierung zu einer Professionalisierung geführt hat, welchen Beitrag das Qualifikationsmerkmal der gelehrten Bildung für die Entwicklung des „Berufsmässigen“ einer Tätigkeit geleistet hat, insgesamt also auf die Relevanz akademischen Wissens in der Gesellschaft.

 

Der Erwerb von akademischem Wissen, so eine der Thesen der Studie, war an bestimmte Erwartungen geknüpft, an den späteren Nutzen. Der Soziologe Pierre Bourdieu lieferte hier den Leitfaden für die Prämissen der Umsetzung akademischen Wissens in der Gesellschaft: Das kulturelle Kapital – dazu gehört auch universitäre Bildung –, das jemand im Laufe seines Lebens akkumulieren kann, ordnet sich dem Ausmass des bereits vorhandenen sozialen und ökonomischen Kapitals unter. Dies waren die gesellschaftlichen „Spielregeln“ der sozialen und lokalen Herkunft, der Familienzugehörigkeit und der Beziehungsnetzwerke, die Leitlinien setzten, innerhalb derer sich die späteren Lebenswege der Immatrikulanten bewegten.

 

Als Untersuchungsraum diente das Bistum Konstanz, das sich vom Gotthardmassiv bis nach Stuttgart und von Kleinbasel bis nach Ulm erstreckte. Diese um 1500 grösste Diözese zeichnete sich durch einen ausserordentlichen wirtschaftlichen, demographischen, kirchlichen und kulturellen Reichtum aus und bot zudem eine Fülle von politischen Organisationsformen, die sich seit dem Wegfall der Staufer und Zähringer entwickeln konnten. Mittels der prosopographischen Methode wurden sämtliche zwischen 1430 und 1550 an hohen Schulen immatrikulierten Konstanzer Diözesanen in einer Datenbank erfasst und in ihrem früheren und vor allem späteren Lebensweg verfolgt. Zu annähernd einem Drittel (4’145 Personen) der 14’812 Universitätsbesucher konnten professionale Positionen und Funktionen ausgemacht werden. Die Hauptquellen der Untersuchung bilden Universitäts-, Fakultäts- und Nationenlisten sowie Promotionsverzeichnisse, nebst einer Vielzahl von Studien, die Aufschluss über die spätere Lebensstellung der Universitätsbesucher geben können. Die Studie gliedert sich in zwei Hauptteile: Zunächst wird die regionale und soziale Herkunft der Universitätsbesucher aus dem Bistum, die Entwicklung der Immatrikulationszahlen und der akademische Bildungserwerb mit Graduierungen und Universitätswechseln untersucht. Der zweite Teil fokussiert auf die mögliche Umsetzung des akademischen Bildungserwerbs, indem das Aufkommen von Universitätsbesuchern in verschiedenen professionalen Bereichen im Umfeld der Kirche, der Städte und der landesherrlichen Verwaltung erforscht wird.

 

Es hat sich gezeigt, dass der südwestdeutsche Raum erst seit der Gründung der Universitäten Basel, Freiburg (1460) und vor allem Tübingen (1477) den Anschluss an die reichsweite Entwicklung des Universitätsbesuchs gefunden hatte. Bis in die beginnenden 1520er Jahre ist ein veritabler Bildungsboom zu beobachten, der erst durch die Reformation unterbrochen wurde. Während dieser überall im Reich zu beobachtenden Bildungskrise blieben vor allem die Artisten den hohen Schulen fern, während sich die sozial höher stehenden Juristen als krisenresistenter erwiesen.

 

Getragen wurde der Universitätsbesuch insgesamt von einer „gehobenen“ städtischen Bürgerschaft, marginal flankiert vom Adel. Auffällig ist auch die deutlichere Abgrenzung der vermögenden akademischen Besucherschaft im südwestdeutschen Raum gegenüber den mittellosen Studierenden im Vergleich zu anderen Reichsregionen. Der sozialen Herkunft entsprechend ist zudem die Neigung, akademische Grade zu erwerben, im Südwesten höher gewesen als in weiter nördlich gelegenen Herkunftsräumen. Vor 1500 erwarb über die Hälfte der Besucher mindestens den untersten Grad der artistischen Fakultät, den Bakkalarstitel, während sich der Artes-Magistertitel im 16. Jahrhundert zum Regelabschluss entwickelte. Anhand der Graduierungen der Juristen kann ausserdem nachgewiesen werden, dass die Zahl der Bakkalaren, Lizentiaten und Doktoren der Rechte bereits seit den 1480er Jahren ein Niveau erreicht hatte, das erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wieder überschritten wurde. Für eine verstärkte Integration juristischen Sachverstands waren erst die politischen, administrativen und jurisdiktionellen Verhältnisse der frühen Neuzeit bereit.

 

In der Frage der Abnehmer akademischen Wissens hat sich erwartungsgemäss die Kirche als die grösste Arbeitgeberin erwiesen. Sie nahm den steigenden Angebotsdruck seitens der Universitäten am stärksten auf und setzte ihn vor allem im Pfarrklerus um. Einen Graduierungswettlauf um Pfründen hat es allerdings nicht gegeben; nur in den auf Repräsentation und Prestige bedachten grösseren Städten wurden die städtischen Prädikaturen und Pfarrstellen an akademische Qualifikationsmerkmale gebunden. Diese hochgebildeten Kleriker bildeten zusammen mit dem bischöflichen, geistlichen Verwaltungspersonal (Offiziale, Generalvikare, Weihbischöfe etc.) Ansätze zu einer professionalisierten Amtsführung, während für die grosse „Masse“ der übrigen Kleriker im besten Fall von einer gesteigerten Akademisierung ausgegangen werden darf, d.h., akademische Bildung spielte zwar immer häufiger, aber längst noch nicht regelmässig eine entscheidende Rolle bei der Pfründenvergabe. Solche Vorgänge sind dann erst eine Folge der Reformation, bzw. des obrigkeitlich gelenkten Kirchenregiments der frühen Neuzeit. Gegenüber der Kirche fallen die weltlichen Funktionsbereiche in der Konstanzer Diözese stark ab. Nur ein Fünftel der untersuchten Personen liess sich in städtischen Positionen finden. Universitäres Wissen kam in diesem Umfeld erst punktuell und noch kaum kontinuierlich zum Einsatz. Für die professionalen Tätigkeiten der Notare und Stadtschreiber konnte sogar eine „Deakademisierung“ in Bezug auf die Funktionsinhaber festgestellt werden. Akademische Bildungsvoraussetzungen verbanden sich nur mit den (Latein-)Schulmeistern (meistens artistische Magistergrade), den Ratskonsulenten (juristische Grade) und den Stadtärzten, bei denen der medizinische Doktorgrad nach 1500 beinahe schon zur Regel und geradezu zur Berufsbezeichnung wurde.

 

Auch die landesherrlichen Dienste boten gegenüber der Kirche ein wesentlich kleineres Arbeitsfeld: Nur jeder zehnte Universitätsbesucher aus dem Konstanzer Bistum lässt sich an einem Hof oder in der landesherrlichen Verwaltung nachweisen. Am ehesten boten der Württemberger Hof und seine Verwaltungsorgane (Hofrat, Hofgericht, Vogteien) Anknüpfungspunkte für Universitätsbesucher. Bei diesen Funktionseliten konnte die Verbindung von sozialem und kulturellem Kapital zu professionalen Erfolgen führen, die dann unter günstigen Umständen von mehreren Generationen gehalten oder noch ausgebaut werden konnten. Zur Beantwortung der Frage des Nutzens akademischer Bildung bietet die Studie schliesslich ein vierstufiges Modell an, das auf dem Ausmass des Bildungserwerbs der Universitätsbesucher beruht. Es reicht von den Immatrikulanten, deren Aufenthalt an einer hohen Schule lediglich ein oder zwei Semester währte, über verschiedene Qualifikationsstufen, die vor allem der Erweiterung der professionalen Möglichkeiten dienten, bis zu den mehrere Jahre dauernden Studien, an deren Ende eine hohe Graduierung in einer der drei höheren Fakultäten stand. Dokumentation des Bildungsstandes und beträchtlicher Prestigegewinn sind hier nicht mehr zu trennen, und die soziale Umsetzung dieses Zuwachses an Kultur- bzw. Bildungskapital liess dann in der Regel nicht mehr lange auf sich warten.

 

Die Dissertation wird im Schwabe Verlag in der Reihe Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte (GUW) erscheinen.

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