Academic writing genre
PhD thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Philipp
Sarasin
Institution
Neuzeit
Place
Zürich
Year
2006/2007
Abstract
Mit der Entdeckung der pathogenen Mikroorganismen durch die Bakteriologie im späten 19. Jh. und der Entwicklung von Therapie- und Schutzmassnahmen schien die Beherrschbarkeit aller Infektionskrankheiten erstmals in greifbare Nähe zu rücken. Heute ist von der Vision einer „Ausrottung“ aller Seuchen angesichts von AIDS, SARS und den neuen Grippeviren wenig übrig geblieben. Mit Blick auf Deutschland untersuche ich in meiner Dissertation die Formierung und die Konjunktur des bakteriologischen Denkstils (verstanden als ein ausgebautes Wissenssystem von Erkenntnissen, Begriffen und Methoden) sowie die Praktiken und Techniken des Umgangs mit Bakterien und gefährdeten bzw. infizierten Körpern nach der „Entdeckungsphase“ der 1870/80er Jahre. Der Fokus fällt damit auf den von der Forschung bislang nicht systematisch bearbeiteten Zeitraum zwischen 1890 und 1930. Die Dissertation will aufzeigen, dass der Verlust der Gewissheiten über das Infektionsgeschehen und Epidemien keineswegs eine Erscheinung der neuesten Zeit ist. Denn bereits mit dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde erkannt, dass die frühe Bakteriologie mit der einseitigen Fokussierung auf die Bakterien verschiedene Phänomene von Infektion nicht erklären konnte und die rigide Kontrolle aller Krankheitserreger nicht in allen Fällen erfolgversprechend war. Auf konzeptioneller Ebene wurde das Verhältnis zwischen Mensch und Bakterium, das sich in der Rede vom „Krieg“ gegen „unsichtbare Feinde“ und der „Invasion“ manifestierte, durch neue Wahrnehmungsmuster einer komplexen Beziehung – einer „Symbiose“ oder einem „Gleichgewicht“ – zwischen Makro- und Mikroorganismus ersetzt. Bei der Deutung dieses Paradigmenwechsels wird in der Arbeit ein spezielles Augenmerk auf die Funktion und Rolle der politischen und kulturellen Metaphern in den wissenschaftlichen Texten gelegt. Bifurkationspunkt dieser Betrachtung ist der Erste Weltkrieg. Thesenartig lässt sich festhalten, dass die Dynamisierung des bakteriologischen Wissens- und Handlungssystems ab 1919 u.a. auf die mangelnde Resonanzfähigkeit und den Evidenzverlust der alten bakteriologischen Schemata und Bilder zurückzuführen ist, die noch im Krieg einen enormen Widerhall im lokalen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext fanden und vielfältige Effekte sowohl bei den Praktiken der Seuchenbekämpfung als auch auf politischer Ebene erzeugten.
Neben einer substantiellen Erweiterung der bisherigen wissenschaftshistorischen Forschung zur medizinischen Mikrobiologie im frühen 20. Jh. kann ich mit meinem Projekt einen disziplinenübergreifenden Beitrag zur derzeit besonders in den Humanwissenschaften aktuellen Debatte über die Formen der Wissenserzeugung und –transformation leisten. Überdies trägt die Arbeit mit der Hervorhebung der kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Verankerung naturwissenschaftlicher Erkenntnisprozesse zu einer Annäherung der wiederholt als unvereinbar erklärten „Wissenschaftskulturen“ von Natur- und Geisteswissenschaften bei.
Publikation