Bahnboom beim Bodensee. Die Entwicklung des Thurgauer Eisenbahnnetzes bis zur Vollendung der Stammlinien 1911

AutorIn Name
Thomas
Ammann
Academic writing genre
Master thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Rohr
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2020/2021
Abstract
2018 legten Reisende in der Schweiz über 21 Milliarden Kilometer mit dem Zug zurück. Die Schweiz ist damit in Europa mit grossem Abstand Spitzenreiterin. Die Basis dafür, dass die Eisenbahn diese einzigartige Stellung im Land einnehmen konnte, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschaffen. Über 3700 Kilometer Schienen wurden zwischen 1847 und 1900 verlegt. Eine zentrale Rolle in dieser Entwicklung übernahm die Schweizerische Nordostbahn (NOB). Sie sorgte auch für eine im schweizweiten Vergleich frühe Erschliessung des Kantons Thurgau mit der Eisenbahn dank der Linie von Winterthur nach Romanshorn, welche 1855 eröffnet wurde. Die Masterarbeit nimmt sich der Frage an, wie sich der Thurgau in dieser Pionierphase mit der Eisenbahn auseinandersetzte und zeichnet die Entwicklung des Eisenbahnnetzes bis zur Vollendung des Stammnetzes 1911 detailliert nach. Dabei wird auch untersucht, welche Rahmenbedingungen, Faktoren und Ursachen den Ausbau des Schienennetzes prägten. Basis für die Forschung bilden in erster Linie Quellen der verschiedenen Akteure, insbesondere von Initiativkomitees, Politikern, Behörden und Eisenbahnunternehmen. Das Material reicht von Protokollen und Korrespondenzen über Geschäftsberichte bis hin zu Gutachten und Zeitungsartikeln. Methodisch bedient sich die Arbeit weitestgehend an der gängigen historisch-hermeneutischen Vorgehensweise in der Geschichtswissenschaft. Dabei bleibt die Perspektive bewusst lokal begrenzt. Dank der Thurtalstrecke nach Romanshorn sowie der Linien Winterthur-Schaffhausen und Winterthur-Rorschach kamen der Kanton Thurgau und die angrenzenden Gebiete früh in Kontakt mit dem neuen Massentransportmittel. Doch anstatt von der frühen Erschliessung und der im Güterverkehr bedeutenden Stellung als Transitland zu profitieren und den anhaltenden Bahnboom in der Pionierphase zu nutzen, warf eine jahrelange Auseinandersetzung über die Linienführung der ersten Zweigbahn von Rorschach nach Konstanz den Kanton in den 1860er Jahren weit zurück. Es handelte sich um eine politische Fehde, dessen Zeche am Ende das Volk zu zahlen hatte. Erst 1871 konnte die komplette Bodenseeuferbahn eröffnet werden. Die Veränderungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen rund um die Etablierung der Demokratischen Bewegung führten ab 1872 zu einer neuen staatlichen Interventionspolitik, die eine kurze, ausgeprägte Boomphase im Eisenbahnbau im Kanton Thurgau einläutete. Die Nordostbahn ging in mehreren Kantonen Verpflichtungen zur Erstellung von insgesamt 346 Kilometern Streckennetz ein – bei einem Gesamtnetz von 292 Kilometern. Gleichzeitig entstand mit der Schweizerischen Nationalbahn ein primär durch die öffentliche Hand finanziertes Bahnunternehmen, welches 1875 die für den Kanton Thurgau eminent wichtigen Linien Winterthur-Singen und Stein am Rhein-Kreuzlingen eröffnete. 1876 ging mit der Bischofszeller Bahn zudem eine erste Verbindungslinie vom Thurtal nach St. Gallen in Betrieb. Zu diesem Zeitpunkt schlitterte der Eisenbahnbau im Zuge der aufkommenden Grossen Depression jedoch bereits in eine finanzielle Krise. An dessen Ende waren die Nationalbahn und die Bischofszeller Bahn liquidiert respektive an die Nordostbahn übergegangen, die NOB selbst jedochgezwungen,ihreambitionierten Bauvorhaben durch den Bund sistieren zu lassen. Der Rückkauf der Nordostbahn und vier weiterer Privatbahnen durch den Bund um die Jahrhundertwende verhalf den Thurgauer Eisenbahnbestrebungen schliesslich zu einem letzten Aufschwung, der in der Eröffnung der Bodensee-Toggenburg-Bahn (1910) und der Mittel- Thurgau-Bahn (1911) gipfelte. Die Aufarbeitung zeigt, dass die Entwicklung des Thurgauer Eisenbahnnetzes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einigen Wendungen unterworfen war. Doch auf welche Ursachen, Motive und Gegebenheiten sind die Ausbauschritte im Kanton zurückzuführen? Waren im Thurgau primär wirtschaftliche Motive ausschlaggebend für die Entscheide, welche Linien realisiert wurden? Diese These findet in der Fachliteratur über die nationale Eisenbahnentwicklung weite Verbreitung. Oder spielten im Kanton Thurgau, der über kein wirtschaftliches Zentrum verfügte, möglicherweise andere Aspekte eine Rolle? Im Blick zurück und in der Erörterung dieser Frage offenbaren sich einige lokal bedeutende Aspekte, welche die Ausbauschritte wesentlich beeinflussten. Bemerkenswert sind insbesondere die Dominanz und Omnipräsenz der Nordostbahn, die starke politische Komponente in den Aushandlungsprozessen, die stets von Abhängigkeitsverhältnissen geprägte Finanzierung der Bahnanlagen, die lange Zeit passive Rolle der Kantonsregierung, das ausgeprägte Engagement der Zivilbevölkerung und die entscheidenden Veränderungen auf der rechtlichen Ebene. Konstatieren lässt sich abschliessend, dass sich im Thurgau die Bevölkerung, die Industrie und der Aussenhandel zwischen 1870 und 1910 stark entwickelten – und auf diesen Wandel hatte die Eisenbahn einen entscheidenden Einfluss.

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