Das Archiv für Agrargeschichte (AfA) organisierte am 5. September 2024 einen Workshop zu Mina Hofstetter (1883-1967), einer Ökofeministin und Pionierin des viehlosen und biologischen Landbaus. Anlass war eine neu erschienene Quellenedition, die Teil eines dreiteiligen Publikationsprojekts zu schreibenden Bäuerinnen ist. Dazu gehören auch die Texte von Elizabeth Bobbett und Augusta Gillabert-Randin. Die Veröffentlichung zu Hofstetter soll eine «Grundlage für eine reflektierte(re) Auseinandersetzung mit dieser eigensinnigen, gut vernetzten Bäuerin schaffen.»1 Wie dies aussehen könnte, wurde während des Workshops gemeinsam ausgelotet.
Zum Einstieg zeigte das AfA erstmals den aus Video- und Textquellen zusammengesetzten und mit einem analytischen Kommentar unterlegten Videoessay über Mina Hofstetter.2 Die Teilnehmenden erhielten Einblicke in ihre viehlosen, biologischen Anbaupraktiken, die Bedeutung des Hofes als internationale lebensreformerische Lehrstätte und Hofstetters Vernetzung mit pazifistischen Feministinnen.
ANDREAS WIGGER (Bern) ging in seinem Beitrag näher auf das Format des Videoessays ein, die das AfA seit rund drei Jahren produziert. Gemeinsam mit anderen Forschungsinstituten hat sich das AfA zur Vereinigung der European Rural History Film Association (ERHFA) zusammengeschlossen. Diese fördert die Dokumentation, Erhaltung und Erforschung von Filmen zur ländlichen Geschichte und gibt die Reihe Videoessays in Rural History heraus, in der auch der Film zu Mina Hofstetter erschienen ist. Die selbstproduzierten Videoessays, die aus audiovisuellen und schriftlichen Quellen zusammengeschnitten sind, setzt das AfA vor allem geschichtsvermittelnd ein. Die Filme verfolgen zudem einen wissenschaftlichen Anspruch: So zeigen die Bilder oftmals mehr, als ein Text über diese Bilder zu vermitteln vermag. Wigger verwies aber auch auf die Herausforderungen dieses neuen Formats, so sind etwa Fragen zum Reviewverfahren noch weitgehend ungeklärt.
PETER MOSER (Bern) erläuterte anschliessend die Wichtigkeit von Quelleneditionen für die Geschichtsschreibung. Als Bäuerin sei Mina Hofstetter lange Zeit aus der Geschichtsschreibung ausgeklammert geblieben. Herausfordernd am Quellenbestand von schreibenden Bäuerinnen sei, dass diese oftmals keinen Nachlass hinterlassen haben. Stattdessen sind ihre Quellen häufig über weite Räume verstreut, führte Moser aus. Die Quellenedition zu Hofstetter führe deswegen Dokumente aus verschiedenen Orten in der Schweiz, aber auch aus Wien, London, Dublin, Goetheburg und Vancouver zusammen. Die Edition vereinfache und ermögliche dadurch überhaupt erst eine fundierte Forschung.
FLAVIO EICHMANN (Bern) ging auf unterschiedliche Schwierigkeiten in der Finanzierung von Editionsprojekten ein. Obwohl diese ein wichtiger Katalysator für die Forschung sind, hätten sie in der Forschungsfinanzierung einen schlechten Ruf. Herausforderungen der Leitung und Kontrolle solcher Langzeitprojekte sowie personelle Schwankungen aufgrund der oftmals befristeten Stellen seien die Gründe dafür. Eichmann verwies auf den Verein Social Sciences & Humanities Open Cluster Switzerland (SSHOC-CH) und dessen Ziel, die Interessen einzelner kleiner Forschungsinfrastrukturprojekte gebündelt zu vertreten.
Bereits in der folgenden Diskussion zeigte sich das Interesse an Mina Hofstetter, die den meisten im Raum bisher wenig oder gar nicht bekannt war. Deutlich wurde auch, wie schnell das Vergessen an der umtriebigen Bäuerin einsetzte: Bereits in den 1970er Jahren, nur wenige Jahre nach ihrem Tod, war die Erinnerung an sie weitgehend verblasst.
JURI AUDERSET (Bern) eröffnete den zweiten Teil des Workshops, der sich ausgehend von der Quellenlektüre dem Thema «Arbeiten in einer Lehrstätte für biologischen Landbau» widmete. Auderset betonte die Ambivalenzen in Mina Hofstetters Wirken: Ihre landwirtschaftlichen Ansätze bewegten sich zwischen neuen Potenzialen und ökonomischen Prekaritäten, zwischen frühem Technikinteresse und der frühen Förderung fossiler Ressourcen. Ihr Schreiben wechsle zwischen einfühlenden Abschnitten und dem Versuch, die komplexen Logiken der Anbaupraktiken in ihrer Sprache abzubilden. In ihren Texten fänden sich aber auch politische Aspekte wie ihr stoffwechselpolitisches Bewusstsein oder der Kampf gegen die menschliche und nichtmenschliche Ausbeutung, die sich an den bedeutungsvollen Schnittstellen zwischen Umwelt-, Agrar- und Geschlechtergeschichte verorten lassen.
EVA GELINSKY (Basel) ordnete Mina Hofstetters Verständnis von Bodenfruchtbarkeit ideengeschichtlich ein. Prägend seien insbesondere die seit Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschende Agrikulturchemie und die später hinzukommende Bodenkunde und Bodenbiologie gewesen. Obwohl Hofstetter Aspekte davon aufnahm, habe sich ihr Entwurf eines «natürlichen» bzw. «biologischen» Landbaus gegen die darin angestrebte Agrarmodernisierung gerichtet. Nebst lebensreformerischen Ansätzen finden sich auch Bezüge zum Neovitalismus, wie Gelinsky aufzeigte. In den daraus abgeleiteten Forderungen eines «Zurück zur Natur» gäbe es bei Hofstetter auch konservative, naturalisierende Elemente, die in der Kontextualisierung kritisch mitreflektiert werden sollten.
JESSICA RICHTER (St. Pölten) blickte in ihrem Beitrag kursorisch auf die Arbeit auf dem Hof. Mina Hofstetter wuchs in prekären Lebensbedingungen auf. Bereits als Kind arbeitete sie in der Nebenerwerbslandwirtschaft der Eltern mit und erwarb später mithilfe von Krediten einen eigenen Hof. Die Auswirkungen der wirtschaftlich prekären Zeiten der 1920er Jahre hätten sich durch die Umstellung auf einen viehlosen Betrieb intensiviert. Es seien auch diese wirtschaftlichen Missstände gewesen, die Hofstetter in der Haltung bestärkten, dass ein grundsätzlicher Wandel der Gesellschaft und Lebensweisen notwendig ist. Dieser gestaltende Veränderungswille hebe Hofstetter von rückwärtsgesinnten «Zurück zur Natur»-Ideologien ihrer Zeit ab. In ihren Texten, wenn sie beispielsweise aus der Perspektive des Bodens schreibt, seien sodann auch Ansätze zu erkennen, die heute in Konzepten wie etwa jenen des more-than-human, der relationalen Ökologien oder Care-Ökonomien diskutiert werden.
Am Nachmittag standen Mina Hofstetters Wirken in der Women's Organisation for World Order (WOWO) und die Frage nach ihrer Verortung in der Geschichte des Ökofeminismus im Fokus. Peter Moser diskutierte zunächst die transnationale Vernetzung Mina Hofstetters mit pazifistischen Feministinnen. Er verwies dabei auf ihre Verbündete Anna Helene Askanasy-Mahler, die bereits 1946 argumentierte, die bisherigen Ziele der Frauenbewegung hätten nicht zu einer umfassenden Gleichberechtigung geführt. Auch aufgrund der erlebten Verbrechen und Zerstörung im Zweiten Weltkrieg sowie der anhaltenden nuklearen Bedrohung propagierte Askanasy-Mahler daraufhin eine «zweite Frauenbewegung», die für einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel einstehen müsse. Davon ausgehend warf Moser zwei Fragen auf: Erstens, wie das Engagement von Mina Hofstetter zu deuten ist: Lesen wir sie als einfache Bäuerin oder ist ihr Wirken ein Verweis auf die gestiegene Bedeutung der Bäuerinnen in der Zwischenkriegszeit? Zweitens, wie mit dem Umstand umzugehen ist, dass die Vertreterinnen der WOWO eine zweite Frauenbewegung proklamierten: Welche Implikationen hat dies auf die feministische Historiografie, die den Begriff bereits mit Akteurinnen der 1970er und 1980er Jahren besetzt? Inwiefern bringen heutige Analysekategorien die Gefahr einer Herausschreibung von Akteurinnen mit sich?
Zwei dialogische Inputs von ELISABETH JORIS (Zürich) und NATHALIE GRUNDER (Bern) nahmen in der Folge diese Fragen auf. Elisabeth Joris wies darauf hin, dass Mina Hofstetter in ihren Schriften immer wieder die Machtfrage stellte und es ihr auch um das Stören der Weltordnung ging: Eigentum, Macht und Ausbeutung stellen bei ihr zentrale Kategorien dar, von diesen ausgehend sie eine Kapitalismuskritik formulierte, argumentierte Joris. Ihr Hintergrund sei aber nicht die Theorie gewesen, sondern ihre konkrete, eigene Erfahrung. Bei den Friedensfragen seien Gemeinsamkeiten mit Clara Ragaz und Gertud Woker zu erkennen. Gleichzeitig zeigte Joris in Hofstetters feministischem Denken auch essentialistische Momente auf.
Nathalie Grunder verortete daraufhin die WOWO und die Women's International League for Peace and Freedom (WILPF). Letztere gründete sich im Kontext des Den Haager Friedenskongresses 1915 und setzte sich für Abrüstung und allgemeine Gleichstellung ein. Die WOWO spaltete sich später von ihr ab und war in ihrem Auftreten und ihren Forderungen radikaler. Sie verstand sich als Frauenkomitee gegen Krieg und Faschismus. Für die sich formierende Frauenbewegung der 1970er Jahren seien die WOWO und WILPF nur von marginaler Bedeutung gewesen.
Elisabeth Joris ergänzte, dass die Aktivistinnen der sich konstituierenden Frauenbewegung der 1970er die Frage nicht verhandelten, ob es vor ihnen bereits eine «zweite Frauenbewegung» gegeben hat. Damals fand eine Mobilisierungswelle statt, die eine Abgrenzung zur älteren Generation, eine Ausweitung der Forderungen und Protestformen sowie ein verändertes Selbstverständnis eben einer «neuen», «zweiten« Frauenbewegung zur Folge hatte. Lina Gafner fügte an, dass das Gosteli-Archiv, das sie leitet, die Kategorisierung in «erste» und «zweite» Frauenbewegung vermeide. Die Trennung schaffe zu Unrecht eine unbewegte Zeit dazwischen. Letztlich zeigte sich in der Diskussion, dass Mina Hofstetters Schriften auch auf die Verflüssigung von verschiedenen Kategorien und Konzepten hinweisen: Zwischen alter und neuer Frauenbewegung, zwischen verschiedenen Sozialen Bewegungen, zwischen Revolutionärin und Bäuerin, zwischen Theorie und Praxis.
Im letzten Teil des Workshops diskutierten ANDREAS SCHWAB (Bern) und Elisabeth Joris die Frage, wie Mina Hofstetter bekannter gemacht werden könnte und wie eine Erinnerungsarbeit aussehen sollte. Andreas Schwab stieg mit der kritischen Beobachtung ein, dass über den lebensreformerischen Erinnerungsort des Monte Verità enorm viel wissenschaftliches und populärkulturelles Material existiert, Mina Hofstetter hingegen kaum im öffentlichen Gedächtnis präsent sei. Schwab plädierte dafür, dass eine Rezeption immer auch ein subversives Element enthalten müsse, damit ihre Figuren nicht heroisiert und dadurch verflacht dargestellt würden. Hofstetter bleibe widerständig in der Rezeption und nicht all ihre Ideen und Praktiken könnten in die Gegenwart übertragen werden.
Elisabeth Joris verwies auf den Untertitel der eingangs genannten Edition «Eine ökofeministische Pionierin des biologischen Landbaus». Die Verknüpfung agrarpolitischer und geschlechtsspezifischer Aspekte sowie die Bezugnahme auf nicht-europäische Räume würden Verbindungslinien zwischen Mina Hofstetter und späteren ökofeministischen Akteurinnen der 1970er und 1980er Jahre schaffen. Die Frauengeschichte hat es laut Joris lange verpasst, sich Frauen aus dem ländlichen Raum anzunehmen. Erinnerungsarbeit umfasse dabei auch die räumliche Ebene, was konkret in der Errichtung einer Infotafel am Greifensee umgesetzt werden könnte.
In der anschliessenden Diskussion ergänzte Peter Moser, dass die Einschreibung von Mina Hofstetter in die Geschichte auch bedeute, das Bestehende neu zu denken. Besitz und Eigentum, Autarkie versus Weltwirtschaft seien bei Hofstetter zentrale Kategorien. Die Auseinandersetzung mit ihren Texten könne dabei helfen, bestimmte Phänomene besser zu verstehen, zu denen nicht selten die heutige Sprache den Weg versperre. Gleichwohl sei ein kritischer Quellenumgang in Anbetracht der oftmals stark diskursiv geformten Schriften wichtig. Zu berücksichtigen sei hier auch die persönliche Entwicklung, die Hofstetter zwischen den 1920ern und 1950ern machte.
Dem selbsterklärten Ziel, keine fertigen Ergebnisse, sondern Inputs für weitergehende Forschungen zu liefern, wurde der Workshop gerecht: Die unterschiedlichen Perspektiven und die angeregten Diskussionen ermöglichten eine vertiefte und vielstimmige Auseinandersetzung mit Mina Hofstetter, deren Historisierung neue Zugänge zu Eigentums- und Machtfragen, Kapitalismuskritik aus landwirtschaftlicher Perspektive, zu Schnittstellen des Feminismus mit anderen Sozialen Bewegung und zur Pluralität der Frauenbewegungen bietet. Und auch auf methodischer Ebene eröffnet die Beschäftigung mit Mina Hofstetter interessante Auseinandersetzungen: Sie zeigt, dass es sich lohnt, Quellenbegriffe ernst zu nehmen. Durch diesen Zugang erweisen sich eigene Analysekategorien oft als instabiler als angenommen. Zudem zeigte die Veranstaltung auf, welches Potenzial in Editionen steckt, um neue Akteurinnen in die Geschichte einzuschreiben und damit die Geschichtsschreibung unruhig zu halten. Dabei wird schliesslich auch deutlich, dass unabhängige Institutionen wie das Archiv für Agrargeschichte hierbei eine zentrale Bedeutung einnehmen.
Anmerkungen
1 Moser, Peter: Mina Hofstetter. Eine ökofeministische Pionierin des biologischen Landbaus. Texte und Korrespondenz, München 2024.
2 Moser, Peter; Wigger, Andreas: Was für ein Leben! Mina Hofstetter – eine ökofeministische Pionierin des biologischen Landbaus, AfA/ERHFA Videoessay Nr. 5, 2024. Online: <https://www.ruralfilms.eu/essays/videoessay_5_DE.html>, Stand: 9.9.2024.
Programm
Quelleneditionen und Video Essays: Ein tauglicher Versuch, historisch relevante Akteurinnen wie Mina Hofstetter bekannt(er) zu machen?
Input: Peter Moser, Andreas Wigger
Kommentar: Flavio Eichmann
Arbeiten in einer «Lehrstätte für biologischen Landbau»: Mina Hofstetter und die Herausforderungen des viehlosen bäuerlichen Familienbetriebs
Input: Juri Auderset
Kommentar: Eva Gelinsky, Jessica Richter
Eine Ökofeministin avant la lettre? Mina Hofstetters Engagement in der «Women’s Organization for World Order (WOWO)»
Input: Peter Moser
Kommentar: Elisabeth Joris, Nathalie Grunder
Mina Hofstetter: (K)ein Thema für die Geschichtsschreibung?
Gespräch zwischen Elisabeth Joris und Andreas Schwab