Academic writing genre
Master thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Büschges
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2017/2018
Abstract
Ende Oktober 2014 führten in Burkina Faso Massenproteste gegen eine Verfassungsänderung, welche dem seit 27 Jahren herrschenden Blaise Compaoré eine erneute Amtszeit ermöglicht hätte, zum sofortigen Rücktritt des Präsidenten. Angesichts des geringen Interesses der Bevölkerung an den vorausgegangenen Wahlen erstaunt das Ausmass der Unterstützung dieser Proteste auf den ersten Blick.
Um die Mobilisierung einer breiten sozialen Bewegung gegen die Verfassungsänderung verstehen zu können, wurden die politische Gelegenheitsstruktur, die Collective Action Frames und die kollektive Identität aus den Äusserungender Demonstrierenden erhoben. Als Quellen dienten dazu Interviews mit vierzehn Protestteilnehmenden sowie Zeitungsausschnitte, welche die Ansichten der sozialen Bewegung wiedergaben, etwa in Form von Lesekommentaren oder Pressemitteilungen der verschiedenen an den Demonstrationen beteiligten Organisationen.
Die Analyse dieser Quellen zeigt, dass die Absicht des Präsidenten, die Verfassung zu ändern, nur ein Vorwand für die Proteste oder bestenfalls der berühmte Tropfen zu viel war. Tatsächlich richteten sich die Proteste gegen das als ungerecht wahrgenommene Regime von Blaise Compaoré. Gemäss den Demonstranten sei das Regime darauf ausgerichtet gewesen, den Interessen einer kleinen Elite rund um die Regierung und die Regierungsparteispitze zu dienen. Da die Wahlen insbesondere wegen der ungleich grösseren Ressourcen der Regierungspartei jeweils nicht fair abliefen, hätte diese Verfassungsänderung Blaise Compaoré höchst wahrscheinlich eine erneute Amtszeit ermöglicht. Die einzige Möglichkeit, einen Regierungswechsel und damit eine Verbesserung ihrer Lebensumstände herbeizuführen, sahen die Demonstranten deswegen in der Verhinderung dieser Verfassungsänderungsabstimmung im Parlament. Offen wagte die soziale Bewegung bis zur Stürmung des Parlaments jedoch nicht, einen Regierungswechsel zu fordern. Dies hätte ihr schnell als Putschversuch ausgelegt werden können. Die soziale Bewegung bezeichnete sich so als Verteidigerin der Verfassung und gab öffentlich nur mit dem Slogan „maintenant ou jamais“ zu verstehen, dass es bei den Protesten um noch viel mehr ging; nämlich um die Hoffnung auf ein gerechteres Regierungssystem.
Der Grund, weshalb dem bestehenden Regime nicht zugetraut wurde, faire wirtschaftliche Bedingungen sowie einen Rechtsstaat und eine Demokratie zu schaffen, welche diese Namen verdienen würden, findet sich in dessen Vergangenheit. So hatte die Regierung von Blaise Compaoré zwar nach den drei grossen Demonstrationen „gegen die Straffreiheit“ von 1998–1999 und 2011 oder „gegen das teure Leben“ von 2008 Reformen versprochen. Diese hatten jedoch keine substantiellen Veränderungen gebracht und wurden – so die Vermutung der Demonstranten und Forschenden – einzig für die ausländischen Geldgeber inszeniert. Diese ungelösten Konflikte konnte die soziale Bewegung aufgreifen und so entschlossene UnterstützerInnen gewinnen, welche sich dieses Mal nicht mehr mit leeren Versprechungen zufrieden stellen liessen.
Der sozialen Bewegung schlossen sich jedoch auch Menschen an, welche sich zuvor nie auf die Strasse gewagt hatten. Dies erstens deshalb, weil sich das Regime in den letzten Jahren toleranter verhielt und auf Kritiker mit einer weniger starken oder zumindest weniger öffentlichen Repression reagierte. Zweitens gab sich die soziale Bewegung aber auch bewusst offen und war darauf bedacht, möglichst niemanden auszuschliessen und keine Teilung des Landes herbeizuführen. Die Mitglieder und Lokalpolitiker der Regierungspartei wurden so von den Demonstranten auch nicht als Gegner wahrgenommen. Trotz dieser inklusiven Haltung wurde die soziale Bewegung nicht beliebig. So konnte eine kollektive Identität der sozialen Bewegung ausgemacht werden. Diese starke Identikation mit der sozialen Bewegung zeigte sich beispielsweise darin, dass Demonstranten spontan Führungsrollen innerhalb der Bewegung übernahmen.
Ein dritter Punkt, der die Teilnahme neuer Bevölkerungsgruppen an den Demonstrationen erklärte, war das Erstarken der oppositionellen Organisationen, welches mit einer Schwächung der Regierungspartei einherging. Offensichtlichster Ausdruck dieser Machtverschiebung war die Abspaltung eines wichtigen Teils der Regierungspartei und die kritischere Haltung früher wichtiger Verbündeter wie der katholischen Kirche oder der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Zudem entstanden in den letzten Jahren des Regimes viele von jungen Menschen getragene Organisationen; dies unter anderem aufgrund des Einflusses anderer Protestbewegungen auf dem afrikanischen Kontinent. Diese richteten sich insbesondere an die vielen gut ausgebildeten, aber meist perspektivlosen Jugendlichen, welche in den Jahren zuvor unter anderem über regierungskritische Musikstücke und die marxistisch, antiimperialistisch inspirierten Texte des ehemaligen burkinischen Präsidenten Thomas Sankara politisiert worden waren.