Wenn Eheleute zwischen 1876 und 1911 vor das Amtsgericht Bern oder Freiburg traten, um geschieden zu werden, taten sie dies aus der Überzeugung, dass ihre Partnerin bzw. ihr Partner gegen gewisse Normen verstossen oder bestimmte Erwartungen nicht erfüllt hatte. Der Zustand ihrer Ehe und Paarbeziehung hat die klagende Person dazu veranlasst, die Ehegeschichte in einem institutionellen Rahmen öffentlich zu machen und allenfalls nach einer stattgegebenen Scheidung den Lebensweg alleine weiter zu gehen. Die hier vorgestellte Studie nimmt sich der Frage an, welche Normen und Idealbilder den scheidungswilligen Eheleuten Orientierung boten. Aufgrund welcher Vorstellung von Ehe und von geschlechtsbezogenen Pflichten entschieden sie sich, das eheliche Verhältnis zu beenden? Die für die schlechten ehelichen Verhältnisse schuldig befundene Person zeigte sich in einigen Fällen mit der Scheidung einverstanden, mehrheitlich aber stellte sie sich dagegen. Dies führte zu Zeugenverhören und einem diskursiven Schlagabtausch zwischen den Eheleuten. In diesem Rahmen wurde der Normenkatalog ausgehandelt, der über die Legitimität bestimmter Verhaltensweisen entschied. Daher wird in der Studie nicht nur nach dem Stand der Normen und Idealbilder, sondern auch nach deren Konstruktion gefragt. Normen gelten also nicht als wahrheitsträchtige unveränderliche Einheiten, sondern sind einerseits juridische Verankerung naturalisierter sozialer Phänomene und andererseits Resultat situativ gebundener Abwägungen von sich widersprechenden Normauffassungen. Letztere werden im Kontext der Gerichtsverhandlungen konstruiert, modifiziert und konsolidiert.
Ausgegangen wird von drei Dimensionen von Norm, welche die Basis für den Konstruktionsprozess darstellten: dem Bundesgesetz von 1874 bezüglich des Zivilstands und der Ehe, das die Zivilehe auf Bundesebene einführte und zum ersten Mal auch die Scheidung bundesweit regelte, die individuell-situative Rechtssprechung der Richterin den einzelnen Fällen sowie die im Ehealltag „gelebten“ Normen, die im Rahmen des Prozesses zur Sprache gebracht wurden. Das bürgerlich-liberal geprägte Bundesgesetz wurde 1874 im Parlament verabschiedet. Da das Referendum ergriffen wurde, trat es erst im Januar 1875 in Kraft. Die Rechtsvereinheitlichung als nahe liegende Folge des 1848 gegründeten Bundesstaates war stark umstritten. Die katholischen Kantone wehrten sich gegen die Entmachtung der Kirche und die Einführung der Zivilehe, die unweigerlich die Möglichkeit der Scheidung mit sich brachte. 1911 wurde das Gesetz schliesslich durch das Zivilgesetzbuch ersetzt.
Die Untersuchung basiert auf 424 Scheidungsprozessprotokollen, die teils quantitativ, mehrheitlich aber mit historisch-anthropologischen Ansätzen qualitativ ausgewertet worden sind. Die Gegenüberstellung von Protokollen aus dem katholischen Freiburg und jenen aus dem protestantischen Bern erlaubt einen komparatistischen Ansatz, ohne dass aber ein strikter interkonfessioneller Vergleich vollzogen wird, da dieser zu sehr das Augenmerk auf den konfessionellen Unterschied der beiden Amtsbezirke gelenkt hätte. Um für andere Variablen wie Geschlecht oder soziale Schicht offen zu bleiben, ist ein induktives Vorgehen gewählt worden.
Die „dichte Beschreibung“ und die hermeneutische Lektüre der Quellen haben sieben „Kristallisationsthematiken“ hervorgebracht. Kristallisationsthematiken sind omnipräsente Themen, die von den betroffenen Männern und Frauen immer wieder angesprochen wurden. Es handelt sich um Erzählfiguren, die den ehelichen und familiären Alltag thematisierten: Kinder, Ehebruch, Erwerbstätigkeit, Krankheit, Liebe, Gewalt und Unabhängigkeit. Hinter der primären Bedeutung der ehealltäglichen Ereignisse verbergen sich Machtbeziehungen, Ehemodellund Normvorstellungen, die sich an Alltagserlebnissen kristallisierten. Nur in dieser realitätsbezogenen Form konnten die Klagenden und Beklagten darüber reden.
Die Dissertation nimmt kapitelweise die Kristallisationsthematiken auf und beleuchtet sie bezüglich ihres verborgenen Aussagepotentials über Geschlechterordnung und Normen. Dabei werden 90 der aussagereichsten und typischsten Fälle beigezogen und exemplarisch analysiert. Folgende Schlussfolgerungen konnten gezogen werden: Auf der Ebene der diskursiven Praxis der betroffenen Männer und Frauen, ihrer Klagen, Widerreden und Erzählungen aus dem Alltag, traten in der Gegenüberstellung der Berner mit den Freiburger Protokollen kaum Unterschiede auf. Im Rahmen der sich deckenden Kristallisationsthematiken schilderten die Klagenden und Beklagten in ähnlichen Worten ihre Erfahrungen im Alltag und formulierten sie den Wunsch, geschieden bzw. nicht geschieden zu werden. Es fällt auf, dass sie bei Verweisen auf ihre enttäuschten Erwartungen mehrheitlich auf die von Karin Hausen als „Geschlechtscharaktere“ bezeichneten polarisierenden Wesensmerkmale von Mann und Frau Bezug nahmen: Die Frau als emotionale Hüterin des Hauses und als Zuständige für die Kinder; der Mann als rationaler Vertreter der Familie in der Öffentlichkeit und als Alleinverdiener. Es scheint, als hätte die im 19. Jahrhundert verstärkte normative Zuschreibung von geschlechtsbedingten Charakterzügen und Arbeitsbereichen in die Denkweise und Diskurse der Betroffenen aller sozialer Schichten Eingang gefunden und die konfessionellen Differenzen überdeckt. Einzig die bedeutend geringere Zahl an Scheidungsklagen in Freiburg vermag darauf hinzuweisen, dass eine womöglich konfessionell bedingte Zurückhaltung gewisse Freiburgerinnen und Freiburger daran hinderte, eine Scheidung zu beantragen. Schliesslich war bis zum Jahr 1874, in dem die Untersuchung einsetzt, die Ehe in den katholischen Kantonen ein Sakrament und somit unauflösbar.
Diese bürgerlich geprägten geschlechtsspezifischen Wesensmerkmale kamen deshalb zur Sprache, weil sie umstritten waren. Als Ideologie in den Köpfen zwar vorhanden, im Alltag aber nur teilweise umgesetzt, existierten die in ihnen transportierten Normen neben älteren traditionellen Auffassungen von Eheordnung und Arbeitsteilung. Der Streit um die Rechtmässigkeit von Gewalt in der Ehe oder die Uneinigkeit über die weibliche Erwerbstätigkeit zeugen von widersprüchlichen Normkonzepten, die sich in den Scheidungsverhandlungen niederschlugen.
Auf der Ebene der Richter und deren Rechtsprechung traten hingegen Differenzen auf, die unter anderem konfessionell bedingt waren. Während die Berner Richter zu 89% den Scheidungen stattgaben, lag die Quote in Freiburg bei 32%. Mittels ausgedehnter Versöhnungssitzungen und verschiedenster Verzögerungstaktiken wurden die Entscheide mehrmals verschoben und die Scheidung schliesslich abgelehnt. Ein Blick auf die Biographien der Richter und in die katholische Presse zurzeit der Abstimmung über das Bundesgesetz von 1874 legt die Vermutung nahe, dass die Rechtsprechung durch eine kirchlich und moralisch begründete Ablehnung der Scheidung als Konfliktlösung geprägt war. Während die Freiburger den institutionellen, überpersönlichen Charakter der Ehe und deren Verantwortung für die Gesellschaft betonten, unterstrichen die Berner den vertragsrechtlichen Aspekt und legten das Schwergewicht auf die Qualität und nicht auf die Dauer der Ehe. Schliesslich führt die Studie zum Schluss, dass die drei Normdimensionen, Gesetz, Rechtssprechung und gelebte Norm, unter gegenseitigem Einfluss standen. Die Richter nahmen in ihren Richtsprüchen Rücksicht auf die Kulturund Erwartungshorizonte der Klientinnen und Klienten, während diese ihrerseits ihre Argumentationen und Klageinhalte dem Gesetz und der Rechtsprechung der Richter anpassten. Die gesetzliche Ebene blieb in der hier gewählten Perspektive unveränderbar. In einer Betrachtung der „longue durée“ könnte aber auch hier der Einfluss von Ideologien und sozialen Verhältnissen auf die Revisionen der Ehegesetzgebung nachgewiesen werden. In dieser Verflechtung der Diskurse entstanden und konsolidierten sich Normen, an denen die nächsten scheidungswilligen Eheleute erneut rüttelten oder sich orientierten.
„Der Ehehimmel begann schon früh sich zu trüben.“ Normkonstruktion und Normaushandlung in Scheidungsprozessen vor den Amtsgerichten Bern und Freiburg (Saane) zwischen 1876 und 1911
Academic writing genre
PhD thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Brigitte
Studer
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2007/2008
Abstract