Von „germanischen Warägerfürsten“ und „buntvölkischen Kosaken“. NS-Narrative zum ukrainischen historischen Erbe

AutorIn Name
Yves
Berset
Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Dr.
Carmen
Scheide
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2024/2025
Abstract

Während des Zweiten Weltkrieges war die Ukraine von September 1941 bis Herbst 1944 un- ter deutscher Besatzung. Nach den stalinistischen Repressionen der 30erJahre, die insbesondere die ukrainische Bauernschaft betraf, begrüssten viele Ukrainer:innen die Wehrmacht als „Befreier“ von der stalinistischen Terrorherrschaft. Doch die Stimmung schwang schnell um, denn innerhalb der deutschen Unterdrückungsund Ausbeutungspolitik in den besetzten Ostgebieten gab es kein Platz für eine unabhängige Ukraine. Sie sollte sich in erster Linie den ökonomischen Ansprüchen NS-Deutschlands unterordnen. So setzte die Wehrmacht ukrainische Soldaten auch erst gegen Ende des Krieges direkt an der Front ein, nachdem nach der Niederlage von Stalingrad der „Endsieg“ in weite Ferne rückte.

 

Innerhalb der Masterabeit wird der Umgang mit dem historischen Erbe der Ukraine auf narrativer Ebene untersucht. Dabei setzte die Arbeit die Schwerpunkte auf den Umgang mit dem für die ukrainische Nationalhistoriographie wichtigen Erbe der Kiever Rus’ des 9.-11. Jahrhunderts und dem Kosakenhet’manat des 17. und 18. Jahrhunderts. Die Kiever Rus’ erreichte in der damaligen Zeit eine grosse territoriale Geschlossenheit, welche durch skandinavische Händler und Krieger, den sogenannten Warägern, erreicht wurde. Innerhalb der ukrainischen und russischen Nationalhistoriographie wird diese Phase als Ursprung des jeweils eigenen Staatswesens interpretiert. Das Kosakenhet’manat schaffte für die ukrainische Nationalhistoriographie eine erste territoriale Eigenständigkeit. Die Kosaken bildeten in deren militärisch organisierten Festungen am Dnjepr erste protodemokratische Organisationsformen, die bis in das 18. Jahrhundert bestanden und erst Ekaterina II. durch den territorialen Ausbau des russischen Imperialismus endgültig auflöste. Die ukrainische Nationalbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts griff dieses historische Erbe auf und stellte es in Kontinuität des jungen ukrainischen Nationalstaates.

 

Die Arbeit beleuchtet inwieweit sich die für Romantisierung und Mystifizierung anfällige nationalsozialistische Geschichtsschreibung historisches Erbe anderer Nationalitäten aneignete, welche hegemonialen Narrative dabei im Falle der Ukraine hervortraten und wodurch sich diese Vorgänge erklären liessen. Insbesondere wird untersucht, wie sich der Mangel an deutscher Ukraineexpertise und der Tendenz zu undifferenzierter Geschichtswissenschaft auf die Narrationen zum ukrainischen historischen Erbe auswirkten.

 

Als Quellen wurden verschiedene Medien verwendet, die sich mit der Thematik beschäftigten. Die Untersuchung von Zeitungsberichterstattung, Schulungsunterlagen, Publikationen mit wissenschaftlichem Anspruch und propagandistischen Denkschriften ermöglichten zum einen den Vergleich unterschiedlicher Perspektiven, brachten aber gleichzeitig die Schwierigkeit mit sich, dass sie nur unter Vorbehalt miteinander verglichen werden konnten.

 

Bei der Quellenanalyse zeigte sich im Bezug auf die Darstellung der Geschichte der Kiever Rus’, dass dort die für den Nationalsozialismus typische ahistorische Geschichtsinterpretation massgebend war. Durch die abstrakte und flexible Narration von „Warägerfürsten germanischen Blutes“, welche die Kiever Rus’ gegründet hätten, legitimierten ein Grossteil der untersuchten Autoren die nationalsozialistische „Ostpolitik“, die sie wiederum als „Kulturmission“ auslegten, um die „slawischen Sklaven“ in Tradition der Waräger zu „zivilisieren“. Bei der Aneignung des historischen Erbes der Kosaken zeigte sich eine deutlich grössere Ambivalenz, da dieses in sich äusserst vielseitig war und sich nicht so einfach instrumentalisieren liess. Die ethnische Heterogenität der Kosakengemeinschaften blendeten die NS-Quellen in weiten Teilen aus und romantisierten und mystifizierten deren kriegerische Lebensweise und weit zurückreichenden Traditionen. Dabei wurden die ursprünglich ethnisch heterogenen Söldnergemeinschaften aufgrund ihres „kriegerischen Geistes“ gar zu Vorbildern für die deutschen Soldaten erhoben. Aufgrund des geringen Fachwissens über die ukrainische Geschichte erfolgte diese Darstellung jedoch weitestgehend undifferenziert, wobei tendenziell auch die ukrainische nationale Geschichtsdarstellung ironischerweise unkritisch reproduziert wurde.

 

Die Arbeit zeigte auf, wie NS-Geschichtsnarrationen zum einen gewissen hegemonialen Narrativen folgten, gleichzeitig aber der jeweils persönliche Hintergrund der Verfasser durchaus verschiedene Ansichten zuliess. Dies kann auch dadurch erklärt werden, dass der Nationalsozialismus über keinerlei zusammenhängende Philosophie verfügte. Sie zeigte zudem die Bedeutung und Tragweite von Mystifizierung, Stereotypisierung und Romantisierung für nationalsozialistische Vorstellungswelten.

Zugang zur Arbeit

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