Der Fachverband für Public-History-Forschung (phfv), der sich an Forscherinnen und Forscher in Deutschland, Österreich und der Schweiz richtet, veranstaltete am 13. Juni 2025 an der Universität Heidelberg seine zweite Jahrestagung. Auch in diesem Jahr war die Veranstaltung durch einen öffentlichen Hauptvortrag sowie ein Projektforum strukturiert, das insbesondere Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern die Möglichkeit bot, laufende oder geplante Qualifikationsarbeiten im Bereich der Public History zu präsentieren und zur Diskussion zu stellen.
Der öffentliche Hauptvortrag wurde vom diesjährigen Sprecher des Fachverbandes, CORD ARENDES (Heidelberg), gehalten. Darin diskutierte Arendes die Bedeutung und die Herausforderungen künstlerischer Interventionen im Stadtraum im Kontext geschichtskultureller Aushandlungsprozesse. Im Zentrum stand die Frage, wie sich Spannungsverhältnisse zwischen intendierter Botschaft, öffentlicher Rezeption und lokalspezifischer Aneignung entfalten – etwa bei Denkmälern, Skulpturen oder anonymen Kunstwerken ohne erkennbare Kontextualisierung. Anhand der Skulptur «Der Walzwerker», einer Arbeiterfigur aus Eisen, die ursprünglich aus dem Besitz der Firma Röchling SE & Co. KG stammt, zeigte Arendes exemplarisch, wie weit historische Bezugsgeflechte gespannt werden müssen, um der erinnerungshistorischen Bedeutung solcher Kunstwerke gerecht zu werden. Mannheim selbst verfügt nämlich über keine Tradition der Eisenverhüttung oder des Walzwerkbetriebs; die Firma Röchling hingegen war seit dem 19. Jahrhundert eng mit der saarländischen Montanindustrie verbunden. Dies schien auszureichen, um den Versuch zu unternehmen, im öffentlichen Raum einen symbolischen Bezug zwischen dem dargestellten Beruf des Stahlarbeiters, der Arbeiterschaft als sozialer Klasse und dem ehemals stark von Arbeiterinnen und Arbeitern geprägten Stadtteil Neckarstadt-West herzustellen, wo die Figur 1987 auf einer Verkehrsinsel aufgestellt wurde. Eine tatsächlich identitätsstiftende Wirkung im ursprünglich intendierten Sinne dürfte die Skulptur durch diese eher konstruierten Bezüge kaum entfaltet haben. Arendes betonte jedoch, dass gerade in dieser Offenheit – durch «Missverständnisse», Aneignungen oder Umdeutungen – produktive Räume für Public History entstehen können. So wurde die Figur im Laufe der Zeit durch Graffiti, private Fotoproduktionen und andere Formen informeller Rezeption gewissermaßen in das öffentliche Leben Mannheims (re-)integriert und dabei zugleich (re-)codiert. Der Vortrag plädierte dafür, urbane Kunst nicht nur als historische Reminiszenz zu betrachten, sondern als Ausgangspunkt für gemeinschaftliche Sinnbildungsprozesse im öffentlichen Raum.
Im Anschluss folgte das von NICHOLAS BECKMANN (Heidelberg) moderierte Projektforum, das eine Vielfalt an thematischen Zugängen und methodischen Ansätzen aus aktuellen Dissertationsprojekten der Public-History-Forschung versammelte.
KOLOMAN MARSCHIK (New York) präsentierte ein Promotionsvorhaben zur Instrumentalisierung von Geschichte in politischen Debatten um Autonomie und nationale Zugehörigkeit in der Grafschaft Tirol – sowohl für die Jahre 1860 bis 1880 als auch für den Zeitraum 2017 bis 2022. Auf Grundlage parlamentarischer Reden, Flugblätter, Denkschriften und Presseberichterstattung untersucht Marschik nicht nur, wie historische Narrative von politischen Akteurinnen und Akteuren als Argumente zur Legitimation verwendet werden, sondern auch, wie sich die Strukturen und Funktionen dieser Geschichtserzählungen über die Zeit hinweg verändert haben. Methodisch verbindet das Projekt quantitative Frequenzanalysen mit close readings und typologischen Erschließungen von Vergangenheitsbezügen in zwei Modi: referenzierte Ereignisse und meta-historische Elemente. Die Forschungsfragen, die in diesem methodischen Rahmen beantwortet werden sollen, konzentrieren sich auf die Häufigkeit und die Codierung historischer Argumente ebenso wie auf das Geschichtsverständnis der jeweiligen Sprecherinnen und Sprecher. Letztlich, so Marschik, sollen Prozesse der Verwendung historischer Argumente herausgearbeitet werden, die Aufschluss über die metahistorische Ebene sowie den Wandel der politischen Instrumentalisierung in einer Langzeitperspektive bieten können.
TOBIAS THÖLKEN (Bremen) widmete sich in seinem Beitrag den Potenzialen und Gefahren personenzentrierter Geschichtsdarstellungen in zeitgenössischen Doku-Dramen. Anhand der Produktionen «1918 – Aufstand der Matrosen» und «Kaisersturz» analysiert er in seiner Dissertation die narrative Struktur, die Zuschreibung von agency und die ideologiekritischen Implikationen personalisierter Zugänge. Thölken betonte, dass es ihm im aktuellen Arbeitsstand besonders darum gehe, die theoretischen Aspekte zu schärfen, um daraus einen Fragekatalog für die spätere Tiefenanalyse zu entwickeln. Er stellte fest, dass personalisierte Erklärungsmuster zwar emotional anschlussfähig sind, jedoch auch dazu tendieren, gesellschaftliche Strukturen zu verdecken, historische Prozesse zu simplifizieren und spezifische Akteure und Akteurinnen zu «fetischisieren», indem die Handlungsmacht anderer historischer Figuren durch ebendiese narrativ absorbiert und unsichtbar gemacht wird. Zudem besteht implizit die Gefahr, dass Rezipientinnen und Rezipienten sich mit Herrschaft und Macht von Einzelpersonen – insbesondere der sogenannten «großen Männer» – identifizieren und dadurch die Komplexität historischer Ereignisse in einer zu engen Perspektive beurteilen. Grundsätzlich sei für die Rezeption der personenzentrierten Narrative entscheidend, wem von den Filmemachenden agency zugesprochen wird – Einzelpersonen oder Kollektiven, «großen Männern» oder «Durchschnittspersonen» – und in welchem Ausmaß reflexives Potenzial sowie soziale Sichtbarkeit erkennbar werden.
KLARA VALENTINA FRITZ (Wien) stellte ihr Dissertationsprojekt zu Erinnerungspraktiken mit Fokus auf die größte deutsche Kriegsgräberstätte in Österreich, die sogenannte «Gruppe 97» am Wiener Zentralfriedhof vor. Kriegsgräberstätten sind Orte großer politischer Bedeutung, die die Spannung zwischen kollektiven und individuellen Praktiken und Gedächtnisformen aufzeigen, jedoch im Gegensatz zu Denkmälern noch wenig erforscht sind. Dies gilt insbesondere für die Erinnerungspraktiken, die Fritz ins Zentrum ihrer interdisziplinären Untersuchung stellt. Sie untersucht Gestaltungsentscheidungen und politische Implikationen dieses Gräberfelds, in dem gemäß bisherigen Annahmen hauptsächlich Wehrmachtssoldaten und SS-Angehörige bestattet seien. Die äußere einheitliche Gestaltung der Gräber der «Gruppe 97» verschleiert jedoch die große Heterogenität der Bestatteten, wie sich in der fortgeschrittenen Analyse zeigt: Auch Schwestern des Roten Kreuzes, Mitglieder der ungarischen Armee, Deserteure sowie Zivilisten finden hier ihre letzte Ruhestätte. Ziel der Arbeit ist eine differenzierte Analyse der erinnerungskulturellen Prozesse, die hinter Umbettungen, (Nicht-)Beschriftungen und politischen Zuständigkeiten stehen. Zudem soll ein vertieftes Verständnis für die damit verbundenen sozio-psychologischen Entlastungsmechanismen sowie die Bedingungen für die Verflechtungen oder Abgrenzungen zwischen deutschen und österreichischen, militärischen und zivilen Identitäten in der Bestattungskultur der «Gruppe 97» gewonnen werden.
MALIN MARTIN (Heidelberg) sprach über museale Heimatkonstruktionen in der deutsch-belgischen Grenzregion. Sie analysiert Heimatmuseen in Aachen und Eupen als Beispiele von Orten historischer Sinnstiftung, Identitätspolitik und Modellierung von Heimat vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis heute. Durch die Untersuchung von Ausstellungsgestaltung, Architektur und Begriffsnutzung zeigte Martin, wie sich Vorstellungen von «Heimat« zwischen Nostalgie, Bildungsauftrag und politischer Inanspruchnahme verschieben und in unterschiedlichen historischen Phasen neu gerahmt werden. Gemäß Martin hat der für die Analyse entscheidende Heimatbegriff, der in diesen Museen materiell als «Wohnzimmerthematik» umgesetzt wird, in der öffentlichen Debatte der letzten Jahre ein Comeback erlebt. Es bleibt jedoch – neben der Unschärfe des Begriffs – die Frage, inwiefern sich eine Kontinuität in Verwendung und Funktion des Begriffes für die museale Umsetzung feststellen lässt. In ihrer Arbeit betrachtet Martin diesen daher, basierend auf Friedemann Schmoll, als multiperspektivisches Modell, das zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren unterschiedlich aufgeladen und produziert wurde. Sowohl realpolitische Brüche im Grenzraum als auch institutionelles Framing und die Erwartungshaltung der Rezipientinnen und Rezipienten beeinflussen die Idee von Heimat und ihre museale Umsetzung maßgeblich. In ihrer Untersuchung zeigen sich auf dieser Basis unterschiedliche Modellierungsansätze – emotional-nostalgisch oder lehrreich-informativ –, die jeweils Aufschluss über unsere heutige Beziehung zum Heimatbegriff und dessen musealen Darstellungen geben.
MICHAEL HOLLOGSCHWANDTNER (Wien) schloss das Forum mit seiner Studie über berufsbezogene Überzeugungen von Gedenkstätten-Guides an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. In seiner Forschungsarbeit werden die institutionellen und individuellen Prägungen historisch-politischer Bildungsarbeit reflektiert und diskutiert, wie implizite Überzeugungen die Vermittlungsarbeit der Guides strukturieren. NS-Gedenkstätten leisten einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungsarbeit an die Shoa. Dabei nimmt die Vermittlungsarbeit vor Ort zwar einen hohen Stellenwert ein, eine nähere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Rahmenbedingungen der Vermittlung und individuellen Mechanismen der Guides fehlt allerdings bisher. Hollogschwandtner stellte fest, dass bisher die meisten Studien, die sich mit Holocaust-Gedenkstätten befassen, sich auf eine Analyse der Rezipientinnen und Rezipienten sowie auf die Wirkung der Vermittlung konzentrieren. Die Guides sind jedoch als pädagogische Vermittlerinnen und Vermittler ein essenzieller Teil dieser Wirkung. Auf Basis leitfadengestützter Interviews und Begleitfragebögen identifizierte er zwei übergreifende Vermittlungsansätze, die im Wesentlichen die Basis der pädagogischen Arbeit der Guides strukturieren: «Lernen über Geschichte» mit Fokus auf historische Prozesse und «Lernen für die Gegenwart» mit normativem Bildungsanspruch. Die weitere Analyse wird zeigen, inwiefern eigene Überzeugungen – geprägt durch Herkunft, politische Einstellung, ursprünglichen Beruf, Familiengeschichte, Alter, Geschlecht etc. – die Wahl zwischen diesen beiden Vermittlungsformen beeinflussen, ob sich übereinstimmende Clusterbildungen feststellen lassen und wie sich dies wiederum auf die pädagogische Vermittlungsarbeit auswirkt.
Die zweite Jahrestagung des phfv zeigte einmal mehr, wie breit gefächert, kritisch reflektiert und interdisziplinär vernetzt die Public-History-Forschung im deutschsprachigen Raum arbeitet. Die nächste Tagung ist für Juni 2026 in Regensburg geplant; der Call for Papers wird voraussichtlich im Herbst erscheinen.
Programm
Tagungsleitung/Begrüssung: Cord Arendes
Öffentlicher Hauptvortrag
Cord Arendes: «Kann Spuren lokaler Aneignung enthalten.» Kunst im öffentlichen Raum als Gegenstand der Public History
Projektforum
Moderation: Nicholas Beckmann
Koloman Marschik: Geschichte und Vergangenheit als politisches Argument in Nationalitätskonflikten: Die Grafschaft Tirol 1860–1880
Tobias Thölken: Potenziale (und Gefahren) personenzentrierter Darstellungen von Geschichte in Doku-Dramen: «1918 – Aufstand der Matrosen» und «Kaisersturz»
Klara Valentina Fritz: Erinnerungspraktiken an Kriegsgräberstätten in der Republik Österreich. Die Gruppe 97 (Wiener Zentralfriedhof) im Fokus
Malin Martin: Eine «ergiebige Quelle [...], aus der Heimatliebe und Bürgersinn neue Kräfte heben.» Die museale Modellierung von Heimat(en) in der deutsch- belgischen Grenzregion
Michael Hollogschwandtner: Berufsbezogene Überzeugungen in der Holocaust Education. Eine Interviewstudie mit KZ-Gedenkstätten-Guide