Machen uns staatliche Archive zu gläsernen Bürgerinnen und Bürgern? Oder sind sie im Gegenteil zu verschlossen und drohen, wieder zu jenen Geheiminstitutionen zu werden, die sie vor der Französischen Revolution und für viele noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren? Diese diametral entgegengesetzten Ansichten prägen derzeit die öffentliche Debatte über den Zugang zu Archiven. Der eine Standpunkt wird hauptsächlich von Juristinnen und Juristen vertreten: Diese sehen aufgrund des durch die Digitalisierung und den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) befeuerten, wilden Datensammelns und -archivierens (Datenkraken) die informationelle Integrität der Bürgerinnen und Bürger gefährdet. Sie pochen daher nicht nur bei privaten Firmen, sondern auch bei staatlichen Institutionen wie den Staatsarchiven auf ein «Recht auf Vergessen». Die andere Auffassung äussern Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker: Sie fühlen sich durch – ihrer Meinung nach – zu restriktiv ausgelegte Datenschutzbestimmungen in ihrer Forschung eingeschränkt und erinnern an das demokratische «Recht auf Zugang».1 Diese Debatte um den Archivzugang hat den Verein Schweizerischer Archivar:innen (VSA) veranlasst, einen Lagebericht in Auftrag zu geben. Die vom freischaffenden Historiker und Journalist Urs Hafner verfasste Darstellung «Das Erinnern nicht vergessen. Der Datenschutz als Herausforderung für die Archive der Schweiz. Eine Bestandsaufnahme» bildete die Grundlage für die Diskussionen2 an der Fachtagung des VSA.3
Das Thema stiess auf grosses Interesse, wie die Teilnehmerzahl belegte: Über 250 Personen folgten den Referaten und der anschliessenden Diskussion in Präsenz oder per Videostream. In seiner Einführung rief DANIEL NERLICH (Archiv für Zeitgeschichte ETH Zürich) das Ziel der Fachtagung in Erinnerung: Die Tagung werde nicht primär fertige Lösungen auf eine komplexe Frage liefern, sondern wolle die verschiedenen Interessenvertreter in einen konstruktiven Dialog bringen.
Die Tagung begann mit einer Keynote von URS HAFNER (Freischaffender Historiker). Zunächst legte er sein Vorgehen bei der Erarbeitung des Berichts dar: Da das Thema «Zugang zum Archiv» bislang publizistisch primär von juristischer Seite bearbeitet worden sei, habe er einerseits Archivarinnen und Archivare staatlicher Archive sowie andererseits Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker interviewt. Die wünschenswerte Einbindung weiterer Archivbenutzerinnen und -benutzer – etwa betroffene Bürgerinnen und Bürger – hätte, so Hafner, den Rahmen seiner Recherche gesprengt. Aus diesen Interviews habe er sodann die Standpunkte der jeweiligen Gruppe herausdestilliert. Für die Archivarinnen und Archivare spiele das «Recht auf Vergessen» im Alltag kaum eine Rolle. Allerdings werde aufgrund verschärfter Datenschutzbestimmungen das «Ermöglichen von Erinnern» – eine Hauptaufgabe der Archive und wichtiger Beitrag zum Funktionieren einer Demokratie – immer schwieriger. Die Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker sehen sich ihrerseits durch die Sperr- bzw. Schutzfristen in ihrer Arbeit eingeschränkt. Sie forderten deshalb einen privilegierten Zugang für Forschende und wünschten sich mehr Transparenz im Bereich der archivarischen Erschliessung. Laut Hafner gleiche die aktuelle Situation einem Spannungsfeld, das sich zwischen den «drei heiligen Ds» Digitalisierung, Datenschutz und Demokratie aufspanne. Durch die Digitalisierung würden mehr Daten einem weiteren Publikum zugänglich, was wiederum zu Forderungen nach einem verschärften Datenschutz führe. Diesen gelte es so auszugestalten, dass das «Recht auf Erinnern» weiterhin durchsetzbar bleibt. In der Diskussion stellte Hafner klar, dass er das individuelle Recht auf Vergessen nicht über das kollektive Recht auf Erinnern stelle und dass seiner Meinung nach den staatlichen Archiven mehr Macht eingeräumt werden müsse, indem sie etwa in Aktenbesitz kämen.
Im anschliessenden Referat legte ERNST GUGGISBERG (Staatsarchiv Zug) ausgehend von den drei zentralen Begriffen «Erinnern», «Transparenz» und «Zugang» die Sichtweise eines Staatsarchivs dar. Zunächst erinnerte Guggisberg daran, dass Staatsarchive einen öffentlichen «Auftrag zum Erinnern» hätten und Hüter des Kollektivgedächtnisses seien. Transparenz in der Arbeitsweise, d.h. beim Erwerb, bei der Erschliessung und der Vermittlung von Archivgut sei, so der Staatsarchivar weiter, ein zentrales Gebot der Berufsethik von Archivarinnen und Archivaren, deren Aufgabe es sei, staatliches Handeln nachvollziehbar zu machen. Dazu habe der Zugang zu Archiven für alle frei und unentgeltlich zu sein, wobei es bei Unterlagen mit schützenswerten Personendaten wie etwa Krankenakten natürlich stets zu einer Interessenabwägung zwischen dem Recht auf Information und dem Recht auf Datenschutz kommen müsse.
In der Schweiz bleibt der Zugang zu historischen Unternehmensarchiven für Historikerinnen und Historiker aus mehreren Gründen schwierig, wie der Beitrag von LAURENT CHRISTELLER (Banque Pictet) und SIGRID OFFENSTEIN (Archives et Collections Patrimoine Vacheron Constantin) verdeutlichte. Zunächst einmal falle die heterogene Gruppe «Firmenarchive» als Privatarchive nicht unter die Regelungen der kantonalen oder eidgenössischen Archivgesetze. Sodann würden der Archivaufbau und die Vermittlungsarbeit von den Geschäftsleitungen, die ihr Archivgut nicht selten nur wenig kennen, oft als unnötige Kosten angesehen. Und schliesslich sei die unternehmerische Wettbewerbskultur der Transparenz nicht förderlich. Diese Situation verhindere jedoch nicht das Bewusstsein einer ganzen Reihe von Akteuren (ausserhalb oder innerhalb der Unternehmen) für die Bedeutung von Unternehmensarchiven. Die beiden Referierenden legten dar, wie und in welchem Umfang Zugang zu Firmenarchiven dennoch möglich ist. Sie betonten, dass sich Unternehmensarchivarinnen und -archivare als Mediatoren für diesen Zugang einsetzen, weil eine Bearbeitung des Archivguts nicht zuletzt auch für den Betrieb selbst von Nutzen sein könne, etwa durch die Gewinnung neuer Produktionserkenntnisse oder der Stärkung der Identifikation mit der Firma.
IRENE AMSTUTZ (Schweizerisches Wirtschaftsarchiv) setzte sich mit ihrem Beitrag das Ziel, Archivarinnen und Archivare zu befähigen, in den Austausch mit Juristinnen und Juristen treten zu können. Dazu begann sie ihr Referat mit einem kompakten Durchgang durch die wichtigsten gemeinsamen Konzepte der heterogenen, da föderalistischen Gesetzgebung im Bereich Archivzugang. Darauf aufbauend präsentierte Amstutz Vorschläge, wie ein homogenisiertes Archivrecht in sinnvollem Bezug zu Datenschutz- und Informationsrecht ausformuliert werden könnte. So sei es etwa zentral, dass es zu einem Wechsel der Datenherrschaft komme, sprich die Archive in Besitz der Akten gelangten und diese auch bewerten dürften. Mit der Bewertung würden Archive nämlich bereits einen wichtigen Beitrag zum «Recht auf Vergessen» leisteten, da durch die Selektion keine Rückführung auf den Einzelfall möglich sei. Der Wechsel der Datenherrschaft ermögliche zum einen, über Einsichtsgesuche entscheiden zu können. Zum andern verhindere er den Rückkoppelungseffekt, etwa dass Akten nachträglich von der abliefernden Amtsstelle verändert würden. Weiter müsse gesetzlich die Möglichkeit geschaffen werden, dass Daten zweckentfremdet werden, da der Forschungszweck ja nicht mehr dem ursprünglichen Erhebungszweck entspräche. Schliesslich sprach sich Amstutz für relative Schutzfristen aus, die in gewissen Fällen mit begründetem Interesse und gegen Unterzeichnung einer Benutzererklärung unterschritten werden könnten.
An die vier Fachbeiträge schloss eine von Daniel Nerlich moderierte Podiumsdiskussion an. Die Historikerin MONIKA DOMMANN (Universität Zürich) plädierte für uneingeschränkten Zugang für Forschende mit der Begründung, dass die institutionelle Anbindung an eine Universität bereits eine Datenschutzkonformität garantiere. Staatsarchivarin FABIENNE LUTZ STUDER (Staatsarchiv Wallis) hingegen sprach sich gegen ein Forschungsprivileg aus und betonte die Bedeutung eines gleichen Zugangs für alle. Der Jurist BERTIL COTTIER (Università della Svizzera Italiana) forderte eine genauere und homogenisierte Gesetzgebung zur Freigabe von Akten. NIELS VIGGO HAUETER (Swiss Re) wies auf internationale Gesetzgebungen hin, die Firmen im Umgang mit Archivgut beachten müssten. Der Historiker SACHA ZALA (Schweizerische Gesellschaft für Geschichte SGG) vertrat den Standpunkt, dass der Forschungszweck ein guter Grund für die Bewilligung eines Einsichtsgesuchs sei und dass die Beschreitung des Rechtsweges schon aus Kostengründen keine gangbare Option sei. Die Diskussion endete mit dem Konsens, dass mit Blick auf die Demokratie der Zugang zu staatlichen Archiven für alle Interessierten sicherzustellen ist, ohne dabei jedoch die informationelle Integrität der Betroffenen zu verletzen.
Im Anschluss an die Diskussion zog MARTIN AKERET (Archiv der Universität Zürich) ein kurzes Fazit. Neben einer Zusammenfassung der Tagung resümierte er, dass nicht nur der Dialog mit den Juristinnen und Juristen intensiviert, sondern auch der Gedankenaustausch mit einem Akteur gesucht werden müsse, der heute nicht vertreten gewesen sei: die Politik. Es sei wichtig, dass die anwesenden Akteure ihren gemeinsamen Nenner vereint auf dem politischen Parkett vertreten könnten.
In der Tat schälte sich im Verlaufe der Tagung bereits in einigen Punkten ein Konsens heraus, etwa, dass ein «Recht auf Vergessen», sprich die (nachträgliche) Löschung von Daten, mit Blick auf die Transparenz staatlichen Handelns keine Option ist. Weiter schien Einigkeit darüber zu bestehen, dass es kein (temporäres) Forschungsprivileg geben sollte und dass die Archivbenutzerinnen und -benutzer bei der Gewährleistung der informationellen Integrität stärker in die Pflicht genommen werden sollten. Zugleich müssten Archive zur Transparenz beitragen, indem sie offenlegen, wie sie Archivgut übernehmen und erschliessen und was sie zugänglich machen. Ebenfalls unumstritten schien, dass es eine Vereinheitlichung der aktuellen Gesetzgebung braucht, um das demokratisch unentbehrliche «Recht auf Erinnern» gewährleisten zu können.
Es war wie erwähnt nicht Ziel der Tagung, ein fertiges Lösungspaket zu schnüren, sondern die bereits laufende Diskussion zwischen den verschiedenen am Archivzugang beteiligten Akteuren weiterzuführen. Nun gilt es in einem nächsten Schritt die genaueren Mechanismen zu skizzieren, um die informationelle Integrität von Personen zu sichern, ohne die Forschung übermässig zu behindern und das Informationsbedürfnis der Gesellschaft zu stark einzuschränken.
Anmerkungen
1 Vgl. Schweizerische Gesellschaft für Geschichte (SGG): Ethik-Kodex und Grundsätze zur Freiheit der wissenschaftlichen historischen Forschung und Lehre, Bern 2004. Online: <https://www.sgg-ssh.ch/wp-content/uploads/2023/12/sgg-ethikkodex_grundsaetze.pdf> (Stand: 1.10.2014).
2 Die Beiträge und die Podiumsdiskussion der Fachtagung werden in der online-Zeitschrift arbido erscheinen.
3 Die Tagung bildet somit gewissermassen eine Fortsetzung der Diskussion, die in der traverse-Ausgabe «Der bittere Geschmack des Archivs» (2023/1) angestossen und an einem Workshop zu Fragen rund um den Archivzugang weiter vertieft wurde, den die Abteilung «Wissenschaftspolitik» der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte (SGG) und die traverse am 7. November 2023 in Fribourg organisierten.
Programm
Begrüssung und Einführung: Daniel Nerlich
Urs Hafner: Keynote zur Studie: Das Erinnern nicht vergessen – Der Datenschutz als Herausforderung für die Archive der Schweiz
Ernst Guggisberg: Pflicht zu Erinnerung und Transparenz – Zugang zu staatlichen Archiven
Laurent Christeller und Sigrid Offenstein: Patrimoine privé et communication – Accès aux archives d’entreprises
Irene Amstutz: Konzepte zur Austarierung des Spannungsfelds von Datenschutz, Wissenschafts- und Informationsfreiheit
Podiumsdiskussion: Archivzugang auf dem Prüfstand der Stakeholder
mit Bertil Cottier, Monika Dommann, Niels Viggo Haueter, Fabienne Lutz Studer, Sacha Zala.
Moderation: Daniel Nerlich
Fazit: Martin Akeret
Schlusswort: Silvia Bühler, Kevin Macherel